Meinung

Wenn die Forschung koloniale Züge annimmt

05.12.2022, Internationale Zusammenarbeit

Im Rahmen der Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit werden die Länder des Südens mehrheitlich mit Forschungsgeldern und -konzepten aus dem Norden erforscht. Die Dekolonisation erfordert eine Korrektur der unausgewogenen Machtverhältnisse.

Wenn die Forschung koloniale Züge annimmt
Ravaka Andriamihaja ist Forscherin am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern und Postdoktorandin an der Ecole Supérieure des Sciences Agronomiques der Universität Antananarivo, Madagaskar.
© zVg

Die aktuellen globalen Herausforderungen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Entwicklung bedürfen globaler Partnerschaften. Forschungszusammenarbeit, insbesondere Nord-Süd-Kooperationen, stellen Strategien und Politiken zur Bewältigung dieser Herausforderungen bereit. Durch diese Kooperationen können vielfältige Ressourcen und Netzwerke gebündelt werden, wodurch auf verschiedene Wissenssysteme zugegriffen werden kann. In der gängigen Praxis der Nord-Süd-Forschungskooperationen wird diese Vielfalt jedoch oft ignoriert. Dies schränkt die ForscherInnen bei der Suche nach angemessenen Lösungen für die globalen Herausforderungen ein.

Zusammenarbeit als kolonialer Akt

Nord-Süd-Forschungskollaborationen können dann koloniale Ausprägungen haben, wenn dadurch eine Abhängigkeit von den MitarbeiterInnen aus dem Norden entsteht. Diese Abhängigkeit, die oft mit unausgewogenen Machtverhältnissen einhergeht, beginnt mit der Herkunft und der Verwaltung der Mittel und setzt sich bei der Festlegung der Themen und der Ausarbeitung der Projektdokumente durch den Norden fort.

In dieser Zusammenarbeit kommt die Tendenz zur Unsichtbarkeit von ForscherInnen aus dem Süden und zu Wissensformen, die nicht dem gängigen Ansatz entsprechen, bisweilen einer Form der Kolonialisierung gleich. Die massgeblichen wissenschaftlichen Wissensformen und -praktiken sind a priori diejenigen, die im Norden entstehen und als universell akzeptabel gelten.

Wie können Forschungskooperationen dekolonisiert werden?

Die Dekolonisation der Forschungszusammenarbeit ist ein fortlaufender Prozess, der sowohl die Zusammenarbeit als auch die Wissensproduktion betrifft. Dekolonisation bedeutet, dass alle Arten von Diskriminierung beseitigt werden, indem verschiedene Perspektiven berücksichtigt und Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden – beginnend damit, die vergangenen und aktuellen Praktiken der Kolonisierung zu verstehen. Zweitens setzt eine dekolonisierte Zusammenarbeit voraus, dass mit den MitarbeiterInnen eine Kultur des Zuhörens, der Selbstreflexion und der Chancengleichheit gepflegt wird. Schliesslich erfordert die Dekolonisation eine Neuausrichtung der Zusammenarbeit in der Zukunft.

Sich der Privilegien und Hürden bewusst werden

Die WissenschaftlerInnen einer Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit müssen sich ihrer Privilegien und der bestehenden Hürden bewusst werden. Unausgewogene Machtverhältnisse herrschen insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen, der Gleichberechtigung und der Wissensproduktion. Die ForscherInnen aus dem Norden sind näher an der Quelle und der Verwaltung von Forschungsgeldern sowie an den Entscheidungsgremien. Im Rahmen der meisten Nord-Süd-Forschungskooperationen erforschen gemischte Teams aus dem Norden und Süden die Länder des Südens. Die ForscherInnen aus dem Norden haben somit das Privileg, im und über den Süden forschen zu können.

Die Forschung im und über den Norden zu Themen, die den Süden betreffen, ist jedoch hauptsächlich ForscherInnen aus dem Norden vorbehalten. Aus diesen Projekten wird die Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen aus dem Süden mehrheitlich ausgeklammert. Selbst ForscherInnen aus dem Süden, die im Norden arbeiten, haben kaum Zugang zu leitenden Forschungsfunktionen.

Eine Bewusstseinsbildung über diese Privilegien ermöglicht es, diese hinter sich zu lassen und die strukturellen Hindernisse für Chancengleichheit, Ressourcenzugang und Entscheidungsfindung abzubauen. Auch wenn die MitarbeiterInnen unterschiedliche Ausgangslagen haben, sollte sich niemand in die Rolle des Bittstellers gedrängt fühlen; jeder und jede sollte Verantwortung übernehmen dürfen. Verhandelte Lösungen, Mitbestimmung auf allen Ebenen sowie Leidenschaft bilden die Grundlage für eine echte und bedeutungsvolle Zusammenarbeit für ForscherInnen aus beiden Weltregionen.

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