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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Interview
03.10.2023, Internationale Zusammenarbeit
Fragile Staatlichkeit ist eines der grössten Hindernisse für eine wirkungsvolle und nachhaltige Armutsbekämpfung. Ein Interview über Chancen und Grenzen der internationalen Zusammenarbeit (IZA) in fragilen Kontexten mit Professor Christoph Zürcher.
Herr Zürcher, was bedeutet es, in einem fragilen Kontext zu leben?
Als ich 2017 für meine Forschungsarbeit in Afghanistan war, stand mein Leben als Aussenseiter im krassen Kontrast zur Lebensrealität der Bevölkerung. Ich wurde in einem panzergeschützten SUV herumgefahren, hatte fast keinen Zugang zur lokalen Bevölkerung und stand im besten Fall im Austausch mit der Politik. Der Alltag der Menschen vor Ort ist von Armut, Gewalt, der Angst vor Willkür und Korruption geprägt. Deshalb sind auch der Zeithorizont und damit die Planungsmöglichkeiten der Menschen sehr kurz. Die Frage, was in der nächsten Saison auf dem Acker angebaut werden soll oder ob die Kinder zur Schule gehen sollen, kann in fragilen Kontexten wegen der allgemeinen Unsicherheit kaum beantwortet werden.
Sie haben vor einigen Monaten eine Studie zur Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit in fragilen Staaten durchgeführt. Was hat sie am meisten überrascht?
Die zentrale Erkenntnis, dass es die internationale Zusammenarbeit nicht geschafft hat, fragile Länder zu transformieren, hat mich nicht überrascht. Sie deckt sich mit den Ergebnissen von zahlreichen weiteren Studien. Hingegen überrascht mich die Rezeption der Studienresultate – ich habe diese inzwischen oft präsentiert − immer wieder. Jedes Mal, wenn ich die Studie vorstelle, gibt es Personen im Raum, die deren Evidenz bestreiten und auf einzelne Projekte verweisen, die durchaus erfolgreich waren. Das ist nachvollziehbar, denn unsere Resultate rütteln stark an der Wirkungsvorstellung ihrer jahrelangen Arbeit. Aber die Immunität gegenüber Evidenz ist doch erstaunlich gross.
Sie kritisieren, dass es die internationale Zusammenarbeit nicht geschafft hat, fragile Länder zu transformieren. Liegt dieses «Scheitern» nicht einfach an der zu ambitionierten Zielsetzung?
Die Idee, dass wir ein Land wie Afghanistan mit Instrumenten der internationalen Zusammenarbeit in ein Dänemark verwandeln können, ist naiv. Das Hauptproblem liegt darin, dass wir das nach 20 Jahren Tätigkeit in Afghanistan wussten und dennoch weitermachten wie bisher. Ich wünsche mir eine ehrliche Diskussion darüber, was die IZA in welchen Kontexten bewirken kann und was nicht. Wir dürfen Fehler machen, aber wir müssen auch die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Und was sagt die Wissenschaft dazu?
Unsere Studie hat gezeigt, dass Investitionen in Bildung, Gesundheit und ländliche Entwicklung, beispielsweise die Unterstützung landwirtschaftlicher Strukturen, durchaus erfolgreich sind und bei der lokalen Bevölkerung ankommen. Jedoch hat sich auch gezeigt, dass die erzielten Fortschritte aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage innerhalb kurzer Zeit wieder zunichte gemacht werden können. Was aber nicht bedeutet, dass keine Unterstützung geleistet werden soll.
Sie rufen dazu auf, eine ehrliche Diskussion über neue Strategien in fragilen Kontexten zu führen, die mit der Erkenntnis beginnt, dass IZA kein wirksames Instrument ist, um einen fragilen Staat zu stabilisieren. Was sind wirksamere Instrumente?
Es geht im Kern darum zu verstehen, welche Instrumente in welchem Kontext funktionieren und welche nicht. Ich finde es moralisch vertretbar zu sagen, dass wir in fragilen Kontexten keine Projekte zu Demokratisierung und guter Regierungsführung machen und stattdessen die Ressourcen in humanitäre Hilfe und Resilienzförderung investieren. Projekte, die sich an den Menschen orientieren und nicht die grosse Transformation des Landes anstreben, wirken.
Konnten Sie in ihrer Studie Unterschiede bei den verschiedenen Geberländern identifizieren?
Dies war nicht Gegenstand unserer Studie. Aber ich habe die Vermutung, dass kleinere, neutrale Geber weniger politische Interessen mit ihrer IZA verfolgen und zudem bescheidener sind. Die DEZA beispielweise strebt in fragilen Kontexten die Linderung von Not und menschlichem Leid, die Stärkung der Resilienz, den Schutz der Menschenrechte und Friedensförderung an. Das finde ich einen realistischen Anspruch an das, was mit der internationalen Zusammenarbeit erreicht werden kann. Denn die Stabilisierung eines Landes ist ein politischer Prozess und kann nicht allein durch klassische IZA herbeigeführt werden.
Welche Bedeutung hat die direkte Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft für die IZA in fragilen Staaten?
Die direkte Zusammenarbeit mit der Regierung ist in fragilen Staaten oftmals nicht angebracht oder nicht zweckmässig. Deshalb kann die Zusammenarbeit mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und vor allem lokalen Gemeinschaften besonders wichtig sein. Auch wenn solche Programme selten zu mehr Sicherheit oder mehr Legitimität der Regierung führen, so tragen sie oft auch in diesen schwierigen Kontexten zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen bei.
Immer wieder hören wir die Kritik, dass Entwicklungsgelder in autoritären Staaten die Regime stützen und länger an der Macht halten. Was ist der wissenschaftliche Befund hierzu?
Bei dieser Kritik muss unbedingt differenziert werden, welche IZA geleistet wird. Klar, im Fall von direkter Budgethilfe ist diese Kritik durchaus berechtigt. Jedoch sehen viele Geberländer von Budgethilfe in autoritären und fragilen Ländern ab. In anderen Bereichen ist der Zusammenhang nicht ersichtlich. Ich sehe keine Evidenz dafür, dass autoritäre Regimes durch humanitäre Hilfe und Resilienz-Projekte gestützt werden. Es gibt keinen erwiesenen Zusammenhang zwischen Regimestabilität und der Anzahl Menschen, die verhungern. Und selbst wenn es den Zusammenhang gäbe, wäre der moralische Imperativ, den Menschen zu helfen.
In Ländern wie Afghanistan, wo die humanitäre Lage derzeit katastrophal ist, ziehen sich immer mehr Organisationen zurück. Angenommen Sie könnten dort das Länderprogramm einer Entwicklungsagentur gestalten: Wie würden Sie das Geld investieren, um möglichst viel Wirkung zu erzielen?
Prinzipiell würde ich mit viel Bescheidenheit an die Sache herangehen, mich an den Menschen im Land orientieren und lokal abgestützte Programme planen. Ich würde prioritär in kleinere Infrastrukturprojekte, den Aufbau von Resilienz, in humanitäre Hilfe, Gesundheits- und Bildungsprojekte sowie Informations- und Medienförderung investieren. Ich würde früh ankündigen, dass ich langfristig vor Ort bin, und würde die Projekte partizipativ umsetzen. Langfristig, hartnäckig, klein, an den Menschen orientiert, ohne transformativen Anspruch. Zudem muss immer wieder evaluiert werden, ob die Projekte und Programme noch zu den Rahmenbedingungen passen oder ob beispielsweise doch mehr mit der Regierung zusammengearbeitet werden kann als zuvor. Langfristige Partnerschaften und Flexibilität in der Umsetzung sollen im Zentrum stehen.
Wird die Wirkung internationaler Zusammenarbeit nicht bereits genügend gemessen?
In der Regel werden die Projekte der internationalen Zusammenarbeit regelmässig evaluiert. Aber das Potenzial der Wirkungsmessung – also die Aussage darüber, was die Projekte und Programme auch ausserhalb der eigenen Ziele bewirkt haben – ist noch lange nicht ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang soll insbesondere die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ausgebaut werden.
Was schlagen Sie konkret vor?
Die Wirkungsmessung sollte länderübergreifend geplant und umgesetzt werden. Wie zum Beispiel in der Meta-Studie, welche ich im Development Co-operation Report 2023 der OECD publizieren konnte. Unser Ziel wäre es, 15 Partnerländer mit unterschiedlichen Herausforderungen zu vergleichen. Dies bietet eine solide Datengrundlage für die Analyse, welche Instrumente in welchen Kontexten unter welchen Bedingungen funktionieren und unter welchen nicht. Das sollte alle zwei Jahre wiederholt werden und wäre finanziell überschaubar.
Gibt es Bereiche der internationalen Zusammenarbeit, in denen die Wirkung schlecht messbar ist?
Ja, die gibt es. Dazu gehören beispielsweise Projekte in der Medienförderung und im capacity building. Hier wird viel Geld investiert, aber die Wirkung ist schwierig zu messen. Es ist kein Zufall, dass sich bei Gesundheits- und Ernährungsprojekten klare Resultate ergeben, denn diese sind einfach zu messen. Hingegen ist beispielsweise schwierig zu erfassen, was die Wirkung einer zweijährigen Weiterbildung von afghanischen Beamten im Finanzministerium ist, was aber nicht heisst, dass sie nicht wirken kann.
Gibt es Grenzen, ab wann der Fokus auf Wirkungsmessung nicht mehr zweckmässig ist?
Nein, ich denke nicht. Es ist in jedem Kontext und in jedem Projekt sinnvoll zu wissen, was funktioniert und was nicht.
Wie Sie bereits erwähnt haben, kann beispielsweise die Wirkung bei Investitionen in capacity building oder Medienförderung nur schlecht gemessen werden. Besteht bei einer zu einseitigen Fokussierung auf Wirkungsmessung nicht die Gefahr, dass diese wichtigen Bereiche in den Programmen untergehen?
Ja, dem würde ich so zustimmen. Da hilft die Methode der Plausibilisierung. Konkret am Beispiel der Medienförderung würde so rasch klar, dass Zugang zu Informationen und Meinungsbildung eine offene Gesellschaft und damit eine positive Entwicklung anstösst. Eine weitere Möglichkeit wäre, wertebasiert zu argumentieren und zu planen, wobei hier die Verhältnisse zu berücksichtigen sind. Ich halte das kanadische Vorgehen, 90% der Ausgaben für Vorhaben im Bereich «Gender Equality and the Empowerment of Women and Girls» auszugeben, für unangemessen angesichts der Tatsache, dass die empirische Evidenz deutlich zeigt, dass solche Vorhaben in fragilen Staaten keine Wirkung haben.
Wie würde eine IZA aussehen, die nur auf Wirksamkeitsstudien und wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht?
Das allein reicht nicht. Zusätzlich zu Wirksamkeitsstudien und wissenschaftlichen Erkenntnissen soll in die Projekt- und Programmplanung auch die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg oder Misserfolg einbezogen werden. Insgesamt würde so die internationale Zusammenarbeit kleiner, bescheidener, partizipativer und langfristiger. Wobei mit finanziell kleinen Projekten auch viele Menschen erreicht werden können.
Die von Christoph Zürcher durchgeführte systematische Überprüfung von 315 Einzelevaluierungen der internationalen Zusammenarbeit für Afghanistan, Mali und Südsudan von 2008 bis 2021 hat eine klare Botschaft: Die internationale Zusammenarbeit hat mehrere Ziele nicht erreicht, sei es bezüglich Stabilisierung (z. B. durch die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen oder den Aufbau von Mediations- und Konfliktlösungskapazitäten), Aufbau staatlicher Kapazitäten, guter Regierungsführung oder der Stärkung der Rolle der Frau. Die wichtigste Erkenntnis: Internationale Zusammenarbeit ist kein geeignetes Instrument, um die Kernprobleme in fragilen Kontexten anzugehen. Jedoch gibt es durchaus positive Resultate aus Projekten in den Bereichen Bildung, Gesundheit und ländlicher Entwicklung. Christoph Zürcher fordert mit diesen Resultaten die internationale Gemeinschaft dazu auf, eine ehrliche Debatte über die Ziele und die Wirksamkeit internationaler Zusammenarbeit in fragilen Kontexten zu führen.
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