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Statement zur Lage im Nahen Osten
Humanitäre Tradition auf Abwegen
23.04.2024, Internationale Zusammenarbeit
Nach dem Massaker der radikalislamischen Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung und dem darauffolgenden Kriegsausbruch hat sich die Lage im Gazastreifen katastrophal verschlechtert. Nach wie vor werden rund 100 Geiseln festgehalten. Schulen, Spitäler und weite Teile der zivilen Infrastruktur wurden zerstört. Die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser ist in grossen Teilen des Gebiets zusammengebrochen. Es ereignet sich eine humanitäre Katastrophe und die internationale Staatengemeinschaft schaut zu.
Der Krieg zwischen der Hamas und Israel trifft insbesondere die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Viele haben kein Dach mehr über dem Kopf, die Lebensmittelversorgung ist kollabiert. Oftmals haben die Menschen alles verloren, nichts zu essen, sind nirgendwo sicher und können nicht mehr fliehen. So betont auch die IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric-Egger, dass es kaum noch Möglichkeiten für humanitäre Hilfe im Gazastreifen gebe: Die Einfuhr von Medikamenten und anderen Hilfsgütern sei schwierig. Es gebe keine sicheren Orte mehr, der Zugang zu Medizin sei kaum noch vorhanden, jener zu Wasser massiv eingeschränkt. Es sei schwer nachzuvollziehen, wie die Konfliktparteien den versprochenen Schutz für die Zivilbevölkerung noch gewährleisten wollen, sagte Spoljaric in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Mitte Februar. Zwei Monate später stehen die Menschen im Norden des Gazastreifens, den die israelische Armee vom Süden abgetrennt hat, vor einer Hungersnot. Bereits sind Kinder an Hunger gestorben.
Unabhängiger Untersuchungsbericht entlastet die UNRWA
Der Grossteil der 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen ist heute in den Schulen und Notunterkünften der UNRWA – dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten – untergebracht. «Wenn es sie [die UNRWA] nicht mehr gäbe, würde es in Gaza so gut wie gar keine humanitären Operationen mehr geben», sagte Martin Griffiths, UN-Koordinator für humanitäre Soforthilfe Ende März bei seinem Besuch in der Schweiz. Doch die Rolle der UNRWA im Nahost-Konflikt ist bereits seit Jahren ein heftig diskutiertes Thema. Sie sei politisch nicht neutral, sie sei von der Hamas unterwandert, sie sei Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Viele der Vorwürfe sind aber nicht von unabhängiger Seite belegt. Wer diesen Vorwürfen entgegnen möchte, beisst auf Granit. Von den Kritiker:innen wird nicht gesehen, dass die UNRWA Teil des UNO-Systems ist und umfassende Rechenschaft gegenüber den UNO-Mitgliedsstaaten ablegen muss.
So zeigt auch der am Montag publizierte Untersuchungsbericht einer unabhängigen Expertengruppe, dass die Anschuldigungen unberechtigt sind. Die Expertinnen und Experten kommen zum Schluss, dass die UNRWA über eine Vielzahl von Mechanismen und Verfahren verfügt, um a) die Einhaltung des Grundsatzes der Neutralität zu gewährleisten; b) bei Hinweisen auf Verstösse rasch und angemessen reagieren zu können (z.B. über Melde- und Untersuchungssysteme); und c) Massnahmen gegen Mitarbeitende einzuleiten, falls es zu Verstössen kommen sollte.
Die Illusion einer kurzfristigen Alternative zur UNRWA
Nur die UNRWA verfügt über die Strukturen, das Personal und das Fachwissen, um die ausreichende Zufuhr und Verteilung lebensnotwendiger Hilfsgüter zu gewährleisten. Die Gesamtheit der UNRWA mit ihren 30'000 Mitarbeiter:innen und die Millionen von notleidenden Hilfsempfänger:innen, insbesondere im Gazastreifen, dürfen unter keinen Umständen für mutmassliche Verbrechen von Einzelpersonen unter Kollektivstrafe gestellt werden. Würde die Schweiz die Finanzierung der UNRWA stoppen und damit das einzige Werkzeug schwächen, mit dem die menschgemachte Hungersnot allenfalls noch gestoppt werden kann, wäre die Glaubwürdigkeit der humanitären Schweiz auf lange Sicht beschädigt. Unterbindet die Schweiz ihre Hilfe, trüge sie für die humanitäre Katastrophe und den zu befürchtenden Hungertod Tausender eine Mitverantwortung.
UNRWA-Kritiker:innen, die gleichzeitig die humanitären Abgründe im Gazastreifen anerkennen, rufen dazu auf, die Gelder statt der UNRWA anderen Organisationen, etwa dem IKRK, zur Verfügung zu stellen. Diesen Kritiker:innen ist offensichtlich nicht bewusst, dass die UNRWA in der Region eine quasi-staatliche Rolle einnimmt, die nicht nur in der humanitären Hilfe alternativlos ist. So bestätigte auch Philippe Lazzarini, der Generalkommissar der UNRWA, gegenüber der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats Ende März, dass keine andere Organisation die Kapazitäten hat, um die Aufgaben der UNRWA zu übernehmen.
Auf die Schweiz übertragen würde das bedeuten, dass von heute auf morgen das gesamte Gesundheitssystem, die Sozialdienste sowie alle Bildungseinrichtungen der Kantone Zürich und Aargau von einer anderen Organisation übernommen und geführt werden müssten. Um dem Vorwurf Rechnung zu tragen, das UNRWA-Personal sei von der Hamas unterwandert, müssten auch noch alle Angestellten ausgewechselt werden. Ein solcher institutioneller Umbau wäre selbst in der Schweiz mit ihrer guten Gouvernanz undenkbar, geschweige denn in einem schwer kriegsversehrten Gebiet wie dem Gazastreifen. Kurz: In der aktuellen humanitären Not könnte im Gazastreifen ohne die UNRWA gar keine Hilfe mehr geleistet werden.
Eine politische Lösung ist dringender denn je
Die UNRWA wurde 1949 als Übergangslösung gegründet. Durch die Verhärtungen im Nahostkonflikt und auf Grund der Tatsache, dass sämtliche Versuche, ihn zu lösen, in den letzten 80 Jahren gescheitert sind, wurde diese Übergangslösung zum Dauerzustand. Umso mehr drängt sich heute die Frage auf, wie eine politische Lösung aussehen könnte, die von allen Konfliktparteien akzeptiert wird und allen Menschen in der Region neue Perspektiven eröffnet. Angesichts des aktuellen menschlichen Elends im Gazastreifen ist eine politische Lösung dringlicher denn je.
Alliance Sud fordert deshalb, dass…
- die vorgesehenen finanziellen Beiträge der Schweiz an die UNRWA im April ohne weiteren Verzug ausbezahlt werden. Allfällige Verzögerungsversuche müssen mit Verweis auf die immanente Hungersnot im Gazastreifen entschieden zurückgewiesen werden.
- sich der Bundesrat für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, für eine Aufhebung der Blockade des Gazastreifens für versorgungskritische Güter wie Wasser, Nahrung und Strom, für eine bedingungslose Freilassung der verschleppten israelischen Geiseln sowie für einen umfassenden und dauerhaften Waffenstillstand einsetzt.
- sich der Bundesrat für konkrete Massnahmen zur Durchsetzung der rechtlich bindenden Resolution 2728 des UNO-Sicherheitsrats einsetzt. Diese fordert einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen, die Freilassung aller Geiseln und den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen. Die Resolution wurde am 25. März ohne Gegenstimme verabschiedet. Alliance Sud begrüsst die aktive Rolle, welche die Schweiz bei der Ausarbeitung dieser Resolution gespielt hat.
- der Bundesrat alle diplomatischen Mittel für einen dauerhaften Frieden mobilisiert, die dazu beitragen können, sowohl das Existenzrecht Israels wie auch das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen dauerhaft durchzusetzen.