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«Wir müssen hartnäckig nach Lösungen suchen»

03.10.2022, Internationale Zusammenarbeit

Die ehemalige Nationalrätin Regula Rytz setzt ihr Engagement auf der internationalen Ebene fort – als neue Präsidentin von Helvetas. Die aktuellen multiplen Krisen betrachtet sie auch als Chance für die globale Zusammenarbeit.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

«Wir müssen hartnäckig nach Lösungen suchen»
Regula Rytz blickt auf eine lange politische Karriere zurück. Diese begann in der kantonalbernischen Legislative, führte sie in die Stadtberner Exekutive und schliesslich ins Bundeshaus als Nationalrätin und Präsidentin der Grünen Partei Schweiz. Die ehemalige Volksschullehrerin und engagierte Historikerin ist nun selbstständig und in diversen Stiftungsräten und Vorständen tätig.
© Daniel Rihs / Alliance Sud

Interview von Kristina Lanz, Andreas Missbach und Marco Fähndrich

Bis im Frühling waren Sie noch im Nationalrat, seit Juni sind Sie die neue Präsidentin von Helvetas. Was reizt Sie am meisten an Ihrer neuen Funktion?

Regula Rytz: Die Welt wird von Krisen durchgeschüttelt. Ich mache mir grosse Sorgen über die sozialen Folgen; hier in der Schweiz und vor allem dort, wo die Menschen seit langem kämpfen müssen, um zu überleben oder um ein Dach über dem Kopf zu haben. Helvetas bringt konkrete Verbesserungen. Das ist mir wichtiger denn je.

Werden Sie aus dem politischen Alltag im Bundeshaus etwas vermissen?

Die Arbeit in den Kommissionen, also dort, wo man mit KollegInnen aus anderen Parteien nach Lösungen sucht. Die zunehmende Polarisierung dagegen werde ich nicht vermissen. Ich freue mich, in einem Bereich tätig zu sein, wo man kooperativ zusammenarbeitet.

Gibt es Länder im Globalen Süden, zu denen Sie einen persönlichen Bezug haben?

Mein Mann war als Kind mit seinen Eltern in Nepal, wo sie für die Vorgänger-Organisation der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) gearbeitet haben. Auch Helvetas war damals schon dort. Ich selber konnte Nepal dreimal besuchen und habe gesehen, wie sich die Entwicklungszusammenarbeit im Laufe der Jahre verändert hat. Früher hat man vor allem in Infrastrukturprojekte wie Strassen investiert; heute wird viel stärker auch die lokale Wirtschaft gefördert, zum Beispiel durch die Berufsbildung.

Wird sich Helvetas in Zukunft noch stärker politisch im Inland engagieren?

Dafür gibt es Alliance Sud und die macht eine hervorragende Arbeit. Unser Schwerpunkt bleibt die Arbeit vor Ort: Wir arbeiten mit der DEZA und lokalen Behörden zusammen, aber auch mit lokalen NGO und dem Privatsektor. Seit jeher gehört es zudem zu unserem Selbstverständnis, die Schweizer Bevölkerung für globale Zusammenhänge zu sensibilisieren und mehr Politikkohärenz einzufordern.

Sie sind auch im Stiftungsrat der Fondation «Gobat pour la Paix». Was kann uns Albert Gobat, vergessener Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Berner Regierungsrat, in Zeiten des Krieges heute noch lehren?

Albert Gobat hat vor dem ersten Weltkrieg die interparlamentarische Union ins Leben gerufen mit dem Ziel, Menschen aus allen Ländern und Parteien zusammenzubringen und eine Eskalation zu verhindern. Das zeigt t uns, dass es immer Menschen gibt, die einen Weg suchen, um Konflikte friedlich und konstruktiv zu lösen. Das brauchen wir heute mehr denn je. Gobat kam übrigens aus der liberalen Partei und kann auch für die heutige FDP ein Vorbild sein.

Sie meinen für den heutigen Aussenminister und Bundespräsidenten Ignazio Cassis? Wenn man ihm zuhört, hat man ja das Gefühl, dass die Schweiz Weltklasse sei…

Das hängt davon ab, von welcher Schweiz wir reden. Ich finde es bemerkenswert, wie gross die Solidarität in der Bevölkerung ist, bei den Spenden oder in den Gastfamilien der ukrainischen Kriegsvertriebenen. Auch die Politik hat gehandelt: So hat sich der Bund den Sanktionen angeschlossen und bisher über 100 Millionen Franken für die humanitäre Hilfe bereitgestellt. Natürlich könnte und müsste man aber mehr tun, insbesondere bei der Umsetzung der Sanktionen. Auch die Lugano-Konferenz für den Wiederaufbau der Ukraine war ein positives Signal. Aber nun sollte sich die Schweiz aktiv an der europäischen Wiederaufbau-Plattform beteiligen.

Die internationale Konferenz gegen die Hungerkrise, die im Juni in Berlin stattfand, hat Aussenminister Cassis geschwänzt: Gibt es ein Risiko, dass andere Krisen wie die Hunger- oder die Klimakrise vergessen gehen?

Es stimmt zwar, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sich auf den Krieg in der Ukraine konzentriert, weil er eine globale Dimension hat und eine Atommacht betrifft. Aber die Hunger- und Klimakrise sind in ihrer Dramatik nicht zu übersehen. Es ist den Menschen hier immer mehr bewusst, dass alles zusammenhängt. Laut einer Studie der ETH ist deshalb eine Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass die internationale Zusammenarbeit ausgebaut werden sollte. Sie bringt Stabilität und Zukunftsperspektiven.

Die Menschen sind solidarisch, nicht aber das Parlament, welches die Ausgaben für die Armee deutlich erhöhen will. In den nächsten Jahren könnte es wegen der Schuldenbremse dadurch zu Sparpassnahmen bei der internationalen Zusammenarbeit kommen. Was kann die Zivilgesellschaft dagegen tun?

Die finanziellen Herausforderungen sind gross, da sich die Krisen überlagern. Unsere Aufgabe besteht darin aufzuzeigen, dass die Entwicklungszusammenarbeit in dieser Situation gestärkt und nicht geschwächt werden soll. Wenn wir nicht genug gegen globale Armut und Hunger tun, dann werden die Folgekosten enorm sein. Vergessen wir nicht: Die Schweiz hat das 0,7%-Ziel immer noch nicht erreicht.

Im nächsten Jahr finden eidgenössische Wahlen statt. Können globale Themen da eine Rolle spielen?

Ich hoffe und erwarte, dass die Parteien die globalen Risiken thematisieren, weil sie uns alle betreffen. Alles, was heute in der Welt passiert, hat auch etwas mit uns zu tun. Das hat die Corona-Pandemie klar vor Augen geführt. Wir leben heute in einer stark vernetzten Welt, in der es ohne eine Stärkung der globalen Chancengleichheit nicht mehr geht.

Wo sehen Sie derzeit die grössten Herausforderungen der internationalen Zusammenarbeit?

Durch die Häufung von gewalttätigen Konflikten und extremen Klimaereignissen – man denke nur an Pakistan – ist die humanitäre Hilfe stark gefordert. Sie rettet Leben und sichert kurzfristig die Grundbedürfnisse der Menschen. Gleichzeitig dürfen die langfristige Entwicklungszusammenarbeit und die Friedensförderung nicht auf der Strecke bleiben. Denn nur sie ermöglichen nachhaltige Perspektiven und faire Chancen für alle, so dass sich die Menschen aus der Armut befreien können. Helvetas verknüpft diese Ebenen. Wir sorgen zum Beispiel in Flüchtlingslagern nicht nur für Nothilfe, sondern auch für Bildungsmöglichkeiten.

Immer wieder wird kritisiert, dass die Entwicklungszusammenarbeit der sogenannten «white saviours» (weisse Retter) postkoloniale Muster weiterführt. Trifft das auch auf die Schweiz zu?

Die Kritik betrifft weniger die Schweizer als vielmehr die grossen internationalen Organisationen. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit dagegen ist vor Ort verankert. Auch Helvetas arbeitet seit jeher eng mit lokalen Partnern und der Bevölkerung zusammen.  

Könnte man aber die wichtige Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen nicht besser kommunizieren?

Durchaus. Aber wir zeigen schon heute transparent auf, was unsere Arbeit bewirkt und welche zentrale Rolle die lokale Bevölkerung dabei spielt.

Wie schätzen Sie die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor ein? Ist sie eher eine Chance oder ein Risiko?

Das war immer schon ein Schwerpunkt der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Auch wir haben in zahlreichen Ländern sehr gute Erfahrungen gemacht beim Fördern von kleinen und mittleren Unternehmen und von lokalen Wertschöpfungsketten. Was entscheidend ist, sind die Spielregeln: Wenn alle Unternehmen Arbeits- und Umweltrechte respektieren, dann reduzieren sich auch die Ungerechtigkeiten. Gerade die internationalen Konzerne haben hier eine enorme Hebelwirkung.

Und welche Rolle spielt die Politik dabei?

Es ist für die Schweizer Bevölkerung selbstverständlich, dass sich Schweizer Unternehmen auch im Ausland an Umweltstandards und Menschenrechte halten sollen. Das hat die Diskussion über die Konzernverantwortungsinitiative gezeigt. Wenn der Bundesrat seine Versprechen ernst nimmt, dann muss die Schweiz im Bereich Aufsicht und Haftung endlich nachziehen.

Wenig Wirkung zeitigte bisher die Agenda 2030 mit ihren nachhaltigen Entwicklungszielen: In der Schweiz ist sie kaum bekannt und immer häufiger wird sie von den Unternehmen zum «Greenwashing» instrumentalisiert. Sollten wir uns vielleicht eher auf die Umsetzung einzelner Ziele konzentrieren?

Die Menschen fühlen sich in der Regel durch konkrete Themen angesprochen. Deshalb macht es sicher Sinn, die einzelnen Ziele sichtbar zu machen. Wenn andere Länder wegen der Klimakrise zum Beispiel nicht mehr in der Lage sind, genügend Nahrungsmittel bereitzustellen, ist das auch für uns in der Schweiz ein Problem. Die Lösung liegt in der Verbindung von globaler und nationaler Ernährungspolitik.

Und wie bringen wir die Schweiz dazu, in der Klimaaussenpolitik mehr Verantwortung zu übernehmen?

Wir müssen aufzeigen, wie gross unser Fussabdruck und wie gross der Einfluss des Schweizer Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes sind. Leider können viele negativen Folgen nicht mehr abgewendet werden. Die Schweiz steht hier in der Verantwortung: Sie muss die ärmsten Länder bei Schutz- und Anpassungs-Massnahmen besser unterstützen. Das geht nicht ohne zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten.

Sind die heutigen Krisen eine Chance für unsere Arbeit?

Paradoxerweise schon: Die zunehmende Sichtbarkeit der Probleme kann dazu führen, dass die Handlungsbereitschaft wächst. Wenn plötzlich die Lieferketten stocken, wenn Lebensmittel fehlen und es zu Energieengpässen kommt, dann gibt es nur einen einzigen Ausweg: mehr Kooperation, Gerechtigkeit und faire Chancen. Aufzeigen und klarmachen, was die Entwicklungszusammenarbeit bewirken kann, das ist das Gebot der Stunde.

Die meisten Menschen in der Schweiz machen sich aber eher Sorgen um die eigene Altersvorsorge oder um die steigenden Gesundheitskosten als um die Situation beispielsweise in Ostafrika… 

Unsere Lebensqualität hängt auch davon ab, wie es den Menschen in den ärmsten Ländern geht. Eine Welt, in der viele Menschen VerliererInnen sind, ist eine ungemütliche Welt. Eine Welt, in der viele Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist eine gefährliche Welt. Als Historikerin weiss ich, dass es gerade in Krisenzeiten oft zu Gewaltausbrüchen kommt. Umso wichtiger ist die internationale Solidarität. Sie ist die Voraussetzung für Frieden und Stabilität.

Und was sagen Sie den Jugendlichen, die jegliche Hoffnung verloren haben?

Ich bin ein Kind des Kalten Krieges: Als ich 20 Jahre alt war, habe ich jeden Tag mit einem Atomkrieg gerechnet; das hat mich angespornt, mich politisch zu engagieren. Aus Erfahrung weiss ich: Hartnäckiges Engagement lohnt sich und es gibt viele positive Entwicklungen und Lösungen.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.