Meinung

Stimmen an Rande der Globalisierung

21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit

In den letzten sechs Jahren war sie die Stimme von Schweizer Radio SRF aus Südostasien. Nun nimmt Karin Wenger eine Auszeit, spricht über ihre neuen Bücher und wird ab der Herbstausgabe eine Kolumne für «global» verfassen.
Stimmen an Rande der Globalisierung
Als weibliche Journalistin hat man einen besseren Zugang zu einem grossen Teil der asiatischen Bevölkerung: Karin Wenger Im Gespräch mit einer indigenen Frau auf der Insel Borneo, Indonesien.
© zVg

Globales Dorf hin oder her – am Ende sind es die Menschen aus dem globalen Süden, die das wahre und janusköpfige Gesicht der Globalisierung am besten kennen. Ihre Geschichten gehen in der westlichen Medienflut oft unter, weil die rund um die Uhr produzierenden News-Fabriken keinen Platz und keine Zeit finden für den Alltag der Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Kein Zufall, haben auch Schweizer Medien trotz Globalisierung in den letzten Jahren immer weniger über Auslandthemen berichtet.

Umso willkommener sind die qualitativ hochstehenden Ausnahmen: Die Journalistin Karin Wenger hat immer wieder für Radio SRF die unsichtbaren Geschichten hörbar gemacht und diesen Frühling drei facettenreiche und lesenswerte Bücher veröffentlicht, die sich am Rande (und dennoch im Herzen) der globalen Gesellschaft abspielen. Wir wollten wissen: Was bewegt die unsichtbaren Gesichter der Globalisierung? Und welche Konsequenzen spüren sie überhaupt?

«Viele spüren die Globalisierung direkt oder indirekt, indem sie zum Spielball der geopolitischen Mächte und Querelen werden», sagt Karin Wenger als Antwort auf unsere Fragen. Zum Beispiel die Konsequenzen der Megaprojekte im Rahmen der neuen Seidenstrasse Chinas in Laos oder Kambodscha oder der Abzug westlicher Gelder aus Afghanistan – eine Folge des schwindenden Interesses des Westens. Ganz direkt wirkt sich die Globalisierung auf die Arbeitsbedingungen beispielsweise von Arbeiterinnen in Textilfabriken in Bangladesch oder Vietnam aus, ganz nach dem Motto: möglichst billig muss es sein. Diese Arbeitsbedingungen sind immer wieder ein konkretes Thema in ihren Büchern.

Der lange Atem der Journalistin

Im Jahr 1979, als Karin Wenger geboren wurde, marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Sie blieben ein Jahrzehnt und zerschlugen alle Träume, so wie später auch die Taliban. Karin Wenger hat in den letzten Jahren immer wieder über den zermürbenden Krieg und den globalen Kampf gegen Terrorismus in Afghanistan berichtet und dort Mina getroffen, eine mutige und von konservativen Männern verfolgte Sängerin, deren Geschichte im Buch «Verbotene Lieder» (Stämpfli Verlag) erzählt wird. Es ist eine beeindruckende und bedrückende Geschichte, ohne «Happy End», aber trotzdem nicht ganz aussichtslos wie viele andere, die Karin Wenger erzählt («Bis zum nächsten Monsun», Stämpfli Verlag; «Jacob der Gefangene. Eine Reise durch das indische Justizsystem», Matthes & Seitz Berlin).

Es sind Lebenswelten und Extremsituationen, die nur ein Buch und eine Journalistin mit langem Atem und Fingerspitzengefühl wie Karin Wenger erzählen kann. Über Jahre hinweg trifft sie ihre ProtagonistInnen, hört ihre Erfahrungen, spricht mit ihren Verwandten und wird sogar Teil ihrer Geschichte, indem sie zum Beispiel Mina beim Antrag für ein humanitäres Visum beim Schweizer Generalkonsulat in Istanbul unterstützt. Erfolglos. Es sei ein Todesurteil, sagt Mina nach dem negativen Entscheid: «Wir haben keine Papiere, keine Identität, mein Kind kann nicht zur Schule. Das Recht, Mensch zu sein, wurde uns genommen».  

Auch Rozina, eine Näherin aus Bangladesch, deren Geschichte Karin Wenger in «Bis zum nächsten Monsun» erzählt, durchlebte eine dramatische Situation: Sie arbeitete im Rana-Plaza-Gebäude, wo internationale Modeketten ihre Kleider produzieren lassen, als dieses am 24. April 2013 einstürzte. 1134 Menschen starben, mehr als 2500 wurden verletzt. Dabei liebte Rozina ihre Arbeit in der Fabrik, obwohl sie im Zuge des Zusammensturzes ihre Schwester und ihren Arm verlor. «Für arme Frauen wie mich ist die Fabrikarbeit ein Geschenk des Himmels», sagt Rozina. Die Arbeit habe sie frei gemacht, weil sie ihr eigenes Geld verdienen konnte.

Die Kraft der Menschen

«Immer wieder», schreibt Karin Wenger im Vorwort ihres Buches «Bis zum nächsten Monsun», «traf ich auf Menschen, die Schreckliches überlebt hatten, und jedes Mal fragte ich mich: Wie lebt jemand nach einer so extremen Grenzerfahrung weiter? Woher nehmen Menschen die Kraft weiterzugehen, ohne zu zerbrechen – weder physisch noch psychisch –, obwohl sie grausame Erfahrungen gemacht haben?»

Die Sehnsucht nach mehr Tiefe und Komplexität sowie der Wunsch, Menschen länger zu begleiten, statt sie nur in News-Flashs zu Wort kommen zu lassen, haben Karin Wenger dazu bewogen, ihre ProtagonistInnen in den Jahren nach den ersten Begegnungen immer wieder aufzusuchen und schliesslich darüber zu schreiben. Entstanden sind drei pulsierende und exzellent geschriebene Bücher, die mehr verraten über die leeren Versprechungen und die Widersprüche der Globalisierung als viele wissenschaftliche Aufsätze, die nur mit Zahlen und Theorien operieren.

Karin Wenger

Karin Wenger studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Politologie. Während des Studiums arbeitete sie als Friedensbeobachterin in Chiapas und recherchierte zum Nordirlandkonflikt in Belfast. Ihr letztes Studienjahr verbrachte sie an der Universität Birseit im Westjordanland. Für das Schweizer Radio SRF berichtete sie seit 2009 unter anderem über den Krieg in Afghanistan, Naturkatstrophen in Pakistan und Nepal, die vielschichte Demokratie Indiens oder den Militärputsch in Myanmar.

Wer mehr über die Bücher und Karin Wenger erfahren möchte, findet Angaben dazu auf www.karinwenger.ch

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.