Meinung

Providencia: Die Angst ist immer da

17.03.2021, Klimagerechtigkeit

Mitte November hat der Hurrikan «Iota» die kolumbianische Insel Providencia fast komplett zerstört. Die rund 5000 BewohnerInnen haben alles verloren, aber geben nicht auf, erzählt die Direktbetroffene Hortencia Amor Cantillo.

Providencia: Die Angst ist immer da
Hölle im Paradies
© Hortencia Amor Cantillo

Mit meinem Mann und meinen zwei Söhnen habe ich schon zwei Mal einen Hurrikan erlebt. Im Jahr 2005 wurden wir vom Hurrikan „Beta“ getroffen; allerdings war der nichts im Vergleich zu „Iota“. Beide Male kam der Hurrikan in der Nacht. Natürlich war uns nicht bewusst, wie stark „Iota“ sein würde, wir dachten er sei vielleicht in der Kategorie 1 oder 2 einzustufen. Als ich um 4 Uhr morgens merkte, dass wir bereits bei Stärke 4 waren, bekam ich Angst, vor allem weil die Wand unseres Hauses schon fast umfiel. Es war beängstigend. Wer die ganze Nacht mit dem Sturm kämpft, kann die Angst in den Gesichtern nicht sehen, da alles dunkel ist, sogar der Himmel. Den ersten Eindruck im Morgenrot vermitteln die Zerstörungen und Verwüstungen, die zurückbleiben. Es ist wie in einem Schockzustand: Man kann das, was man vor sich sieht, einfach nicht glauben.

Kein Dach über dem Kopf

Meine Familie hat dieser Hurrikan zuerst einmal emotional hart getroffen – wir waren orientierungslos: Die Zerstörung war so gross, dass wir keine Ahnung hatten, wo wir anfangen sollten. Ausserdem wurde der Tourismus, unsere ökonomische Lebensgrundlage, zerstört: die kleine Herberge (posada), von der wir lebten und abhängig waren. Auch das kleine Kinder- und Jugendzentrum, das ich betrieb, wurde grösstenteils zerstört. Ich bin jetzt dabei zu sehen, wie ich mich wieder aufraffen kann.

In unserem Haus haben wir momentan noch vier Gäste, zuerst waren wir 27 Personen, also fünf Familien in einem Haus. Die meisten haben sich irgendwie arrangiert und mit Stöcken und Blechen auf den Grundstücken, wo zuvor ihr Haus stand, kleine Unterkünfte gezimmert. Zu lernen, mit anderen Leuten zu wohnen, solidarisch zu sein und miteinander zu teilen, war auch eine neue Erfahrung für uns. Es ist das Eine, einander ab und zu zu grüssen und zu besuchen, aber das Andere, zusammenzuleben. Wir haben angefangen, eine grosse Mahlzeit für alle zuzubereiten, wobei jeder das beisteuert, was er gerade hat. Ich danke Gott, dass es uns möglich war, anderen zu helfen.

Denn viele, sehr viele Menschen haben alles verloren, wirklich alles. Manchen blieb nur das, was sie am Körper hatten. Viele hatten sich in den wenigen Häusern aus Zement versteckt, die zumindest teilweise stehengeblieben sind. Kurz nach dem Hurrikan hat die Regierung Campingzelte geschickt, aber die waren von schlechter Qualität. Es hat viel geregnet und das Wasser kam von unten in die Zelte rein. Sie sind okay für ein paar Tage, aber jetzt leben einige Leute schon seit dem 16. November darin. Sie beschweren sich, weil alles nass ist. Die Personen, die Zelte erhielten, stellten sie auf den Zementböden auf, die von ihren Häusern übriggeblieben sind, oder in den Toiletten, da einige Toilettenhäuser aus Zement sind. Es ist sehr hart für jene, die alles verloren haben. Der Sturm hat alles mitgenommen. Auch unser Dach im zweiten Stock des Hauses ist komplett weggeflogen; wir haben zwar ein paar Teile wiedergefunden, aber keiner weiss, wo das Dach jetzt ist. Immerhin haben wir Glück gehabt.

Glück im Unglück

Etwa eine Woche nach dem Sturm kam eine NGO und hat angefangen, eine warme Mahlzeit pro Tag zu verteilen. Ihre Mitarbeitenden sind in verschiedenen Teilen der Insel stationiert. Hier bei uns in San Felipe sind sie in der katholischen Kirche; mittags läuten sie die Glocken und die Leute gehen ihr Mittagessen und eine Frucht abholen. Sie sind immer noch da, aber es ist auch für sie schwierig, da das Essen auf San Andrés zubereitet wird und mit Flugzeugen nach Providencia geflogen wird. Sie versuchen jetzt, einen Weg zu finden, um die Mahlzeiten direkt hier vor Ort zuzubereiten und so die komplizierte Logistik, welche dazu führt, dass das Essen manchmal nicht pünktlich ankommt, zu umgehen. Bis jetzt haben wir ihre Unterstützung, wofür ich Gott danke.

Die Regierung organisiert als erstes die Dächer für diejenigen, deren Häuser noch stehen; viele der Dächer sind Spenden von Privatpersonen. Sie werden nun mit Hilfe des Militärs, der nationalen Polizei, der Marine und der Luftwaffe, dem Zivilschutz und dem Roten Kreuz installiert. Sie alle sind hier und helfen beim Wiederaufbau. Aber der Prozess ist sehr langsam, vor allem für diejenigen, deren Häuser komplett zerstört wurden und als letzte wiederaufgebaut werden. Für diejenigen, deren Häuser noch zum Teil stehen, geht es ein wenig schneller, aber wir wissen nicht, wie lange es dauern wird. In der Zwischenzeit machen sie alle ihre Studien und Pläne. Wir versuchen alles, damit es etwas schneller geht. Natürlich gibt es Dinge, bei denen wir Hilfe benötigen. Um die Strände zu rekonstruieren, braucht es Maschinen; und gerade an den Küsten gibt es viele Trümmer, die wir nicht alleine beseitigen können.

Wir bleiben hier

Die Natur wird noch länger brauchen, bis sie sich erholt hat. Es gibt hier einige sehr grosse Bäume – wir nennen sie „Cotton Trees“. Ich wohne nun seit 26 Jahren auf der Insel und sehe immer diese riesigen Bäume mit ihren dicken Stämmen, sie müssen sehr alt sein. Nun wurden viele von ihnen komplett aus dem Boden herausgerissen, einige sind stehengeblieben, aber haben alle Äste und Blätter verloren. Es wird viele Jahre dauern, bis diese Bäume wieder gewachsen sind. Auch die Korallenriffe sind zerstört, und es wird sehr lange gehen, bis sie wieder rehabilitiert sind.

Jedes Jahr von Juli bis Ende November kommt die Hurrikan-Saison. Die Angst ist immer mit uns, aber es wird schwierig sein, noch einmal einen Hurrikan von dieser Stärke zu überwinden. Und wir sind nicht die Einzigen in so einer Situation. Auch an den Küsten der USA, in Mexiko, in Nicaragua besteht das Risiko von Hurrikanen. Uns ist bewusst, dass es immer wieder passieren kann. Ich stimme mit meinem Mann überein, dass ab jetzt jedes Haus einen Ort aus Beton haben sollte, wo man sich verstecken kann. Aber überall auf der Welt passieren Katastrophen, Erdbeben und so weiter.

Jemand hat mich gefragt, ob ich Providencia verlassen möchte. Ich habe Nein gesagt, weil es überall irgendeine Art von Gefahr gibt. Es ist traurig und es tut weh, aber wir sind hier und wir bleiben hier. Providencia ist für uns ein kleines Paradies und wir werden alles tun, um unser Paradies wieder herzustellen.