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Wenn mehr weniger ist

27.03.2023, Entwicklungsfinanzierung

Die globale Ungleichheit wächst und wächst − anders als die Entwicklungsfinanzierung der OECD-Mitglieder. Reiche Länder wie die Schweiz setzen vor allem auf fragwürdige Buchführungspraktiken, um ihren Beitrag schönzureden.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Wenn mehr weniger ist
Schlafsaal in einer Asylunterkunft in der Freiburger Poya-Kaserne, die ab Januar 2023 als Asylunterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine genutzt wird.
© Peter Klaunzer/Keystone

Der Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD DAC) hat 1969 die international anerkannte Referenzgrösse der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung eingeführt: die Aide publique au développement (APD; Official development assistance, ODA). Seither ist sie der Massstab für die Erfassung des Umfangs und der Qualität der bereitgestellten Mittel und bildet damit die Grundlage für die Beurteilung dafür, ob die Geberländer ihren Versprechungen nachkommen.

Die APD wird definiert als Entwicklungsfinanzierung, die a) von staatlichen oder lokalen Regierungen gewährt wird; b) die Empfängerländer in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung unterstützt und c) konzessionär ist, das heisst reine Zuwendungen oder Kredite zu Vorzugsbedingungen umfassen. Die Auslegung dieser Definition gibt immer wieder Anlass zu hoch technischen und gleichzeitig politischen Debatten. Im Kern geht es darum, welche öffentlichen Ausgaben der APD angerechnet werden dürfen. Die unterschiedlichsten Akteure kritisieren, dass die OECD-Mitgliedsstaaten ihre effektiven Zugeständnisse über zweifelhafte und kreative Buchführungspraktiken künstlich in die Höhe treiben und damit die Definition von «Entwicklungshilfe» immer mehr verwässern.

Wie OECD-Mitglieder ihre Knauserigkeit schönreden

Die Kritik an der Anrechenbarkeit kommt sowohl aus der OECD selbst als auch aus den Ländern des Globalen Südens und von Nichtregierungsorganisationen weltweit. Dabei geht es primär um zwei Tendenzen: Die künstliche Aufblähung der APD durch die Anrechnung von Geldern, welche nicht im engeren Sinn zur Entwicklungszusammenarbeit gehören (ODA inflation) und die gleichzeitige Kürzung von Mitteln in Bereichen, wo sie dringend notwendig sind (ODA diversion). So wird getrickst:

1.    Kosten für Asylsuchende im Inland

Seit 1988 können die Kosten für die Unterbringung und Ausbildung von Geflüchteten während dem ersten Jahr ihres Aufenthalts im Geberland (in-donor refugee costs) der APD angerechnet werden. Während es die OECD den Ländern selbst überlässt, ob und wieviel Asylkosten sie der APD anrechnen, nutzt die Schweiz den Spielraum jeweils grösstenteils aus. 2021 machten diese Ausgaben 9% der gesamten APD der Schweiz aus. Darin enthalten sind die Pauschalen, die das Staatssekretariat für Migration an die Kantone entrichtet, die Kosten der Bundesasylzentren (inkl. Beschäftigungsprogramme), die Kosten für die Rechtsvertretung während der Verfahren, jene für Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie die Kosten an die Kantone für schulpflichtige Kinder in den Bundesasylzentren. Auch wenn diese Gelder für den Schutz von Menschen in der Schweiz eingesetzt werden, haben sie keinen entwicklungspolitischen Effekt und tragen nicht zur Reduktion von Armut und Ungleichheit im Globalen Süden bei.

Es ist zu erwarten, dass die APD für 2022 aufgrund der Anrechnung der Kosten der ukrainischen Geflüchteten durch die Decke geht (ohne dass tatsächlich mehr in die EZA investiert wurde). Im schlechteren Fall werden die Asylkosten angerechnet, ohne dass die APD-Quote steigt, was reale Kürzungen in anderen Bereichen bedeuten würde. Damit würden ärmere Länder, die ohnehin schon unter den Auswirkungen des Krieges leiden, auch noch die Rechnung für die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten in Europa bezahlen.

2.    Privatsektor-Instrumente

2016 hat der OECD-Entwicklungsausschuss entschieden, dass sogenannte Privatsektor-Instrumente (PSI)  also verschiedene Arten von Investitionen, Beteiligungen und Garantien an Unternehmen für die Mobilisierung privater Finanzmittel  ebenfalls der APD angerechnet werden können. Weil sich die Mitglieder des OECD DAC nicht auf eine gemeinsame Definition von «Vorzugsbedingungen» bei Krediten an den Privatsektor einigen konnten, wurden vorläufige Bestimmungen zur Anrechenbarkeit der PSI verabschiedet, welche den Grundwert der Konzessionalität untergraben. Für die Anrechnung der PSI an der APD muss jetzt nur noch die Zusätzlichkeit der Entwicklungsgelder (additionality) ausgewiesen werden, was das Konzept der APD im Grundsatz erschüttert.

Bisher scheint die einzige Begründung zur Anrechnung der PSI zu sein, dass der Privatsektor als Antwort auf die fehlenden und dringend benötigten Mittel zur Entwicklungsfinanzierung gesehen wird. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Empfängerländer interessant: Der weitaus grösste Teil des durch PSI erzielten Mitteleinsatzes geht an Länder mit mittlerem Einkommen (2018: 59%, 2019: 51%), verglichen mit 7% (2018) und 2% (2019), die in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) zu verzeichnen sind. Die Geberländer müssen sich auf strenge und verbindliche Kriterien und Standards sowie auf wirksame Transparenz- und Rechenschaftsmechanismen einigen, die den Einsatz von PSI in der Entwicklungszusammenarbeit regeln und den entscheidenden konzessionären Charakter der öffentlichen Entwicklungsgelder nicht gefährden. In der Schweiz nimmt die Rolle der PSI bisher einen marginalen Stellenwert ein (40 Mio. CHF). Doch mit der zunehmenden strategischen Ausrichtung der internationalen Zusammenarbeit auf die Kooperation mit dem Privatsektor, ist es durchaus möglich, dass dieser Anteil in den kommenden Jahren massiv steigen wird.

3.    Abgetretene Corona-Impfdosen

2021 beschloss der Entwicklungsausschuss, dass Corona-Impfdosen, die an ärmere Länder abgetreten wurden, den Entwicklungsausgaben zum Referenzpreis von 6.72 USD pro Impfdosis angerechnet werden dürfen. Dies ist ebenso absurd wie skrupellos, denn diese Impfdosen wurden nie im Interesse der ärmeren Länder gekauft − im Gegenteil, die masslosen Käufe in reichen Ländern führten dazu, dass sie in anderen Ländern weder verfügbar noch zahlbar waren. Die Positionierung der Schweiz ist zusätzlich fragwürdig, da sie als einziges Land den Umfang der gespendeten, überschüssigen Impfdosen aus Datenschutzgründen nicht transparent machen will.

Die Auswirkungen auf die APD-Quote sind beträchtlich. Gegenüber dem Vorjahr ist die gesamte APD aller OECD-Länder um 8,5% angestiegen, was hauptsächlich auf die COVID-19-Unterstützung, insbesondere in Form von Impfstoffspenden, zurückzuführen ist. Ohne diese Impfstoffspenden wäre die APD 2021 nur um 4,8% gestiegen. Im Entwicklungsausschuss ist aktuell die Debatte darüber im Gang, zu welchem Referenzpreis die Spenden der APD im Jahr 2022 angerechnet werden können. Statt über den Preis zu verhandeln, täten die DAC-Mitglieder gut daran, die Anrechnung auf die tatsächlich für den Globalen Süden erworbenen Impfdosen zu beschränken.

Glaubwürdigkeit wiederherstellen

Die zunehmende Verwässerung der APD untergräbt die Glaubwürdigkeit von Geberländern. Gleichzeitig fehlen dem Globalen Süden die Mittel zur Bekämpfung der multiplen Krisen, welche zahlreiche Menschen in Armut, Not und Hunger drängen. Es scheint sonderbar, dass das OECD DAC die Kriterien zur Anrechenbarkeit von öffentlichen Entwicklungsausgaben selbst definiert. Denn trotz des Mandats des DAC, die Qualität und Integrität der APD sicherzustellen, laufen die bisher erzielten Vereinbarungen meist in die entgegengesetzte Richtung und wirken sich negativ auf die Qualität und Quantität der Gelder aus, die die Länder des Globalen Südens erreichen. Ein erster Schritt zur Verbesserung der Integrität der APD wäre beispielsweise der Aufbau einer unabhängigen statistischen Instanz  zum Beispiel eines offiziellen Gremiums, welches aus Expert:innen aus Geber- und Empfängerländern besteht. Nur ein solches Gremium wird in der Lage sein, die Regeln zu reformieren und die Glaubwürdigkeit der ausgewiesenen Entwicklungsgelder wiederherzustellen.

Wenn die reichen Länder, wie sie behaupten, wirklich an Transparenz, Ehrlichkeit und die Erfüllung internationaler Verpflichtungen glauben, müssen sie ihre kleinlichen Buchhaltungspraktiken einstellen und ihre Versprechen einlösen. Die APD muss wieder im engen Sinn definiert werden und den Fokus auf die Überwindung von Armut und Ungleichheit legen. Die Schweiz sollte sich im OECD DAC für eine solche enge Definition der APD einsetzen und sich in ihrer Berichterstattung auch daran halten. Ein weiterer und wichtiger Schritt wäre das Erreichen des 0.7%-Ziels, und zwar ohne die Anrechnung der Asylkosten, der gespendeten Corona-Impfstoffe, der Privatsektor-Instrumente und der Stipendien für ausländische Studierende in der Schweiz. Werden alle diese Kosten der Quote von 2021 abgezogen, erreichte die Schweiz gerade mal eine APD von 0.44% (siehe Graphik). Da fehlt fast ein Drittel für die Erreichung des 1970 vereinbarten UNO-Ziels von 0.7% des Bruttonationaleinkommens.

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© Alliance Sud


Die Schweiz hat für 2021 0.5% APD ausgewiesen. Wenn die Ausgaben, welche nicht den Kriterien von Konzessionalität und grenzüberschreitender Geldflüsse entsprechen, abgezogen werden, dann kommt die Schweiz auf eine APD von 0.44%. Dies ist weit entfernt vom international vereinbarten Ziel von 0.7%

APD in der Krise

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat gezeigt, wie rasch öffentliche Entwicklungsgelder unter Druck kommen können. Kurz nach dem Ausbruch des Kriegs haben zahlreiche Länder ihre Budgets für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe eingefroren oder gekürzt, in manchen Fällen wurden die Gelder auch explizit umgelagert, um die Kosten zur Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge zu decken.

In der Schweiz ist trotz verschiedener Angriffe auf die Entwicklungsgelder im Parlament noch nicht absehbar, wie sich das Budget für die internationale Zusammenarbeit entwickeln wird. Mit dem massiven Ausbau der Militärausgaben in den nächsten Jahren, welcher unter Einhaltung der Schuldenbremse nicht machbar ist, stehen bereits für 2024 Kürzungen bei den schwach gebundenen Ausgaben des Bundeshaushalts an. Jetzt bei den Entwicklungsausgaben zu sparen, ist aber exakt das Falsche, denn die Bedürfnisse ärmerer Länder aufgrund der multiplen Krisen waren nie grösser und ihr Handlungsspielraum aufgrund der akuten Schuldenkrise nie kleiner.

 

Einführung des Subventionsäquivalents

2019 wurde das Subventionsäquivalent (grant equivalent) eingeführt, um den «Effort» der Geberländer besser abzubilden. Im Kern geht es darum, dass reine Zuwendungen (ein grösserer Effort der Geber) und Kredite (kleinerer Effort) nicht gleichwertig in der APD abgebildet werden sollen. Deshalb kann seit 2019 nur noch der Subventionsanteil von Krediten als APD ausgewiesen werden. So weit, so gut.

Das Problem an der Geschichte: Subventionsäquivalente sind nur dann glaubwürdig, wenn die Geber den Barwert der Rückzahlungen unter Verwendung aktueller Marktzinssätze errechnen. Stattdessen beschloss das DAC fixe Zinssätze von 6, 7 oder 9 Prozent (bestehend aus einem «Basissatz» von 5 Prozent plus einer «Risikomarge» von 1, 2 oder 4 Prozent, je nach Pro-Kopf-Einkommen des kreditnehmenden Landes). Mit diesen hohen Sätzen wird der Gegenwartswert der Rückzahlungen unterschätzt, was zu überhöhten Subventionsäquivalenten führt. Dies selbst bei Krediten, die zu Marktbedingungen gewährt werden.

Aktuelle Zahlen der OECD zeigen, dass die Veränderung der Methodologie bisher einen kleinen Effekt auf die APD insgesamt hatte (+2.3% in 2018, +3.6% in 2019 und -0.2% in 2020). Jedoch ist die Veränderung bei einzelnen Ländern, die einen grossen Anteil ihrer APD über Kredite an die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sprechen, signifikant: für 2020 waren es +19% für Japan, +9% für Spanien und -12% für Frankreich. Die Schweiz ist von dieser neuen Methodologie nur am Rande betroffen, denn sie rechnet der APD nur wenige Kredite an.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.