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Kommt die Impfung gegen die Klimakrise?
22.06.2020, Klimagerechtigkeit
Die Corona- und die Klimakrise sind nicht zuletzt Gerechtigkeitskrisen. Der globale Süden ist zweifach dringend auf Unterstützung angewiesen. Auch darum sind die beiden Krisen vernetzt anzugehen. Ein Plädoyer, jetzt die Weichen richtig zu stellen.
von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»
Die Klimakrise macht keine Pause während der Coronakrise. Im Gegenteil: Gemeinschaften, die bereits Klimarisiken ausgesetzt waren, trifft die Coronakrise doppelt. Hygienemassnahmen sind in ariden Gegenden, wo Wasser an gemeinsamen Brunnen von Hand geschöpft und in stundenlangen Märschen nach Hause getragen werden muss, viel schwerer einzuhalten. Die Überschwemmungen nach der Heuschreckenplage in Ostafrika oder der Zyklon Amphan im Golf von Bengalen trafen bereits geschwächte Gesundheitssysteme mit voller Wucht. Die durch das Virus ausgelöste Mehrfachkrise hat für die Ärmsten und Verwundbarsten katastrophale Konsequenzen: Sie trifft Menschen in klimaexponierten, Infrastruktur- und finanzschwachen Entwicklungsländern, deren ohnehin prekäre Einkommenssituation durch die Pandemie noch vollends zusammenbricht. Es ist kein Zufall, dass der von Germanwatch ermittelte Klimarisikoindex eng mit der Verletzlichkeit gegenüber Epidemien korreliert.
Krise als Chance – was ist dran?
Die Klimakrise wird immer noch da sein, wenn die Weltgemeinschaft das Virus in den Griff bekommen hat, darin sind sich alle einig. Gestritten wird darüber, inwiefern die Coronakrise als Augenöffner dient und ob es legitim und zweckmässig ist, die abgedroschene Phrase von der «Krise als Chance» zu bemühen. Immerhin zeigt der Umgang mit Covid-19 durchaus eine Reihe von wichtigen Perspektiven auf, wie mit der globalen Klimakrise politisch umzugehen ist.
Im Zentrum stehen Fragen, die beiden Krisen gemein sind, wie jene nach deren grenzüberschreitenden Ursachen und Auswirkungen sowie nach der Resilienz von Gesellschaften und deren Kapazitäten, Krisen zu bewältigen. Wir haben gesehen, dass fehlende Investitionen in der Krisenprävention und Pandemie-Vorsorge zu gravierenden Engpässen, auch solchen mit tausendfacher Todesfolge, geführt haben. Die Lehre daraus: Notmassnahmen, ihre Folgekosten und Rettungspakete kommen eine Gesellschaft sehr viel teurer zu stehen als Prävention und frühzeitig ergriffene Vorsorgemassnahmen. Nicht anders verhält es sich damit in Bezug auf Auswirkungen der Klimakatastrophe. Verglichen mit Covid-19 kommt diese quasi im Zeitlupentempo auf uns zu. Aber selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet ab 2030 mit bis zu 250 000 zusätzlichen Todesopfern pro Jahr, wenn sich die Klimaveränderung im heutigen Tempo ungebremst fortsetzt.
Anlass zu leiser Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft Lehren aus der Coronakrise zieht, gibt die Tatsache, dass sich die Politik bei der Bekämpfung der Pandemie auf die Erkenntnisse der Wissenschaft abgestützt und schnelle und einschneidende Massnahmen getroffen hat. Und dies, obwohl die Wissenschaft zwar viel über Virologie und Epidemiologie, aber (noch) fast nichts über den neuen Erreger SARS-CoV2 wusste. Genau umgekehrt verhält es sich mit der Klimawissenschaft: Wiewohl hochkomplex, sind die Ursachen und Mechanismen der Klimaveränderung heute bestbekannt; es führt kein Weg an der Dekarbonisierung vorbei. Der entscheidende Unterschied zwischen Corona- und Klimakrise ist die unmittelbare Bedrohung und deren globale Ausprägung: Auf der ganzen Welt wurde die Pandemie als (gleichermassen) lebensbedrohend erkannt und dementsprechend gehandelt. Bei der Klimakrise dagegen fällt die Bedrohungslage geographisch und sozio-ökonomisch bedingt unterschiedlich aus. Während die BewohnerInnen der Pazifikinseln und anderer bereits unmittelbar von der Klimaveränderung betroffener Regionen zunehmend verzweifelt nach Unterstützung in der Klimakrise rufen, dominiert bei vielen VerantwortungsträgerInnen in den Verursacherländern immer noch die Einstellung, dass es schon nicht so schlimm kommen werde. Es ist zu hoffen, dass diesbezüglich eine repräsentative SPIEGEL-Umfrage mehr ist als eine Momentaufnahme; über 90 Prozent der Befragten wollen, dass sich die Politik in Zukunft mehr auf wissenschaftliche Einschätzungen abstützt. Und eine deutliche Mehrheit (59 Prozent) hält den Klimawandel längerfristig für wirtschaftlich und gesellschaftlich folgenreicher als die Coronakrise.
Zuversichtlich könnte stimmen, dass es einigen Regierungen – im Norden und im Süden – in den letzten Monaten gelungen ist, ihren Bevölkerungen selbst einschneidende Massnahmen nachvollziehbar zu erläutern und diese umzusetzen. Demgegenüber wird sich die Erkenntnis erst noch durchsetzen müssen, dass sich die Klimakrise im Gegensatz zur Pandemie nicht „aussitzen“ lässt; gegen Viren lassen sich Impfungen und Medikamente entwickeln, was für Treibhausgase nicht gilt. Deren erhöhte Atmosphärenkonzentration und damit die Klimaveränderungen verschwinden nicht wieder von selbst. Auch wird sich keine Immunität dagegen einstellen; vielmehr sind kostspielige Anpassungen in Infrastruktur und im Ernährungssystem notwendig. Die Klimakrise erfordert strukturelle Anpassungen statt kurzfristig anberaumter Lockdowns.
Build back better
Angesichts der grossen Opfer, welche die Coronakrise weltweit immer noch fordert, mag es zynisch klingen, ein «gestärkt aus der Krise hervorgehen» zu postulieren. Doch die Milliarden, die weltweit zur Bewältigung der Krise bereitgestellt werden, erlauben keinen Aufschub der Debatte. Welche Art der Unterstützung ist auch aus globaler Klimaperspektive nachhaltig? Wie kann die blosse Aufrechterhaltung von (fossil befeuerten) Strukturen aufgebrochen werden? Aus Sicht von Alliance Sud lautet das Gebot der Stunde build back better oder wie es der ETH-Forscher im Bereich Nachhaltigkeit und Technologie Jochen Markard vorschlägt: Es gelte jetzt, «Disruption punktuell walten zu lassen», also beschädigte oder zerstörte, schon vor der Pandemie nicht zukunftsfähige Strukturen, bewusst nicht zu retten. Denn allzu offensichtlich wäre es ein kostspieliger Leerlauf, mit Coronamitteln Strukturen zu retten, nur um sie möglichst bald mit nochmals zusätzlichen Geldern klimaverträglich umbauen zu müssen. Es liegt auf der Hand, den direkten Weg zu wählen und sämtliche Investitionen zur Rettung der Weltwirtschaft auch gegen zukünftige Schocks abzusichern.
Das umfasst nicht nur virologische, sondern auch die sich abzeichnende Klimabedrohung. Die völkerrechtliche Grundlage dafür existiert: Das Pariser Klimaübereinkommen verlangt in Artikel 2.1.c, dass sämtliche Finanzströme «auf Kurs in Richtung niedriger Treibhausgasemissionen und klimabeständiger Entwicklung» zu bringen seien. In einer Krise, die wie die Klimakrise schon heute den Fortbestand eines Teils der Menschheit bedroht, ist es legitim, wenn nicht gar ein Imperativ, dass die öffentliche Hand als investor of last resort im Namen des Gemeinwohls Einfluss auf eine im Interesse aller zu rettende Wirtschaft nimmt. Oder in den Worten von UN-Generalsekretär António Guterrez: “Public funds should be used to invest in the future, not the past.”
So notwendig kurzfristig aufgelegte Notfallmassnahmen waren, um unmittelbar vom Lockdown Betroffenen über die Runde zu helfen, so wenig dürfen mittelfristig Unternehmen oder Aktivitäten mit Coronahilfsgeldern unterstützt werden, die nicht mit der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vereinbar sind.
Die gute Nachricht: Resilienz gegen künftige Pandemien geht in vielen Belangen mit Klimaresilienz Hand in Hand: Gesicherter Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen etwa, oder die Stärkung der Ernährungssicherheit durch Förderung lokal-regionaler, weniger vom globalen Markt abhängiger Versorgung, sind zentrale Elemente der Epidemie- wie der Klimavorsorge. Wenn die Coronamilliarden auch nach Kriterien der (Klima-)Resilienz und Nachhaltigkeit vergeben werden, lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der grosse Vorteil ist, dass die meisten Massnahmen zur Prävention und Anpassung an die Klimakrise sogenannte No-regret-Investitionen darstellen. Im Gegensatz zu den Kosten für reine Pandemieprävention haben sie einen unmittelbaren, spürbaren Nutzen für die Gesellschaft.
Daher dürfen auch keinesfalls bisherige Klimagelder für Entwicklungsländer als «Coronahilfe» umgelenkt werden. Das machte auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, indem sie im Zenit der Pandemie verlangte, die Klimafinanzierung für die verwundbarsten Länder angesichts der doppelten Bedrohung durch Covid-19 und die Klimaveränderung gerade jetzt zu erhöhen.
Kein «Weiter-wie-bisher»
Leider scheint die Schweizer Politik nach einer kurzen Phase von mutigen und weitreichenden Entscheiden noch während des Lockdowns zurück ins politische Weiter-wie-bisher gefallen zu sein. Dass die Unterstützung der privaten SWISS Airlines nicht einmal an minimale Bedingungen geknüpft wurde, war ein klares Indiz dafür. Andere, auch bürgerlich regierte Länder haben die Chance hingegen erkannt und genutzt, um den ökologischen Umbau an die Hand zu nehmen: Frankreichs Flugindustrie darf nach ihrer Rettung die Bahn nicht mehr konkurrenzieren. Kanada verlangt von allen geretteten Unternehmen konsequente Klimamassnahmen. Und auch die EU-Kommission und ihre Mitgliedstaaten signalisieren, dass sie am postulierten Green Deal trotz oder gerade wegen der coronabedingten Turbulenzen festhalten wollen.
Die Wiederbelebung der Wirtschaft, der Schutz der öffentlichen Gesundheit oder die Bekämpfung der Klimakrise konkurrenzieren sich nicht gegenseitig, im Gegenteil, die drei Bereiche zu verlinken, schafft Synergien und eine zukunftsfähige Politik. Ob es in absehbarer Zeit eine Impfung gegen das Coronavirus geben wird, ist keineswegs sicher. Klar ist, dass sich die Welt nie gegen die Klimakrise impfen lassen kann. Aber beide Krisen können nur mit wissenschafts- und vernunftgetriebener Politik und globaler Zusammenarbeit überwunden werden.