Meinung

Inflationäre Neutralitäten

29.09.2022, Internationale Zusammenarbeit

Die UNO stellt für 2020 oder 2021 eine Verschlechterung des «Index der menschlichen Entwicklung» in 90 Prozent aller Länder fest. Die Welt steht in Flammen oder ist unter Wasser und die Schweiz diskutiert über Neutralität statt über Solidarität.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Inflationäre Neutralitäten

© Parlamentsdienste, 3003 Bern

Cassis, Pfister, Blocher: Alle drei Herren versuchen mit einem Adjektiv vor dem N-Wort zu trumpfen. Bevor wir zu den Adjektiven kommen das Substantiv. Die Neutralität der Schweiz war lebenswichtig, solange Nachbarstaaten Krieg führten. Das war im Deutsch-Französischen Krieg von 1871 so und erst recht im Ersten Weltkrieg, als unterschiedliche Sympathien für die Kriegspartien das Land spalteten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Neutralität bekanntermassen flankiert von einem weiteren Element: Der Geschäftemacherei mit Kriegsparteien. Schweizer Firmen lieferten bis 1944 grosse Mengen an Rüstungsgütern an Nazi-Deutschland. Im Krieg konnte man dazu noch von einer Notlage sprechen, aber danach blieb die Geschäftemacherei, während die Neutralität zu deren wohlfeilem Mäntelchen mutierte. «Neutralität», verstanden als «wir machen mit allen Geschäften und scheren uns nicht um Sanktionen», war einer der drei Gründe (neben Finanzplatz und Steuergesetzen), warum die Schweiz zur global dominierenden Drehscheibe des Rohstoffhandels aufstieg.

Als Nicht-Uno-Mitglied hielt sich die Schweiz nicht an Uno-Sanktionen, etwa gegen Rhodesien (heute Simbabwe) oder Apartheid-Südafrika. Marc Rich, der Pate des Schweizer Rohstoffhandels, dessen Firma zu Glencore wurde und dessen «Rich-Boys» Firmen wie Trafigura gründeten, bezeichnete seine Öl-Geschäfte mit dem Unrechtsregime im südlichen Afrika als sein «wichtigstes und profitabelstes Geschäft». Die Getreidehändler an den Gestaden des Genfersees profitierten aber auch vom Getreideembargo der USA gegen die Sowjetunion und sprangen dort in die Lücke, obwohl die Schweiz im Kalten Krieg ideologisch und praktisch (siehe Crypto-Affäre) ganz und gar nicht neutral war.

Nun zu den Adjektiven: Die «kooperative Neutralität» von Ignazio Cassis hätte die Geschäftemacherei relativiert, indem sie den neuen Status quo seit der russischen Invasion (EU-Sanktionen werden übernommen) festgeschrieben hätte. Doch der Bundesrat erteilte dem Adjektiv des Bundespräsidenten eine Abfuhr.

Weniger klar ist die «dezisionistische (Auffassung von) Neutralität» von Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Liest man sein Interview in der Zeitung Le Temps, beschränken «Menschenrechte, Demokratie und freie Meinungsäusserung» die Geschäftemacherei. Gemäss Interview mit den Tamedia-Zeitungen geht es eher um die Werte des «westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells», also «Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit des Privateigentums und soziale Wohlfahrt».

Die «integrale Neutralität» von alt Bundesrat Christoph Blocher will zurück zur absoluten Geschäftemacherei. Diese verteidigte er einst bereits gegen die Apartheid-KritikerInnen. Die von ihm gegründete und präsidierte «Arbeitsgruppe südliches Afrika» (ASA) wetterte gegen Sanktionen und gab südafrikanischen Rechtspolitikern und Militärs eine Plattform für ihre menschenverachtenden Botschaften. Die ASA organisierte auch Propagandareisen: «Auf den Spuren der Buren».

Auch ich hätte noch Adjektive anzubringen, denn was der Schweiz am besten anstünde, wäre eine «mitfühlende (Flüchtlinge) und weltverträgliche (Menschenrechte vor Geschäftemacherei) Neutralität».

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