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Grosse Herausforderung oder Augenwischerei?

23.03.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Die Ziele der Agenda 2030 können nur mit voller Unterstützung der Wirtschaft erreicht werden. Doch ist diese überhaupt willens und bereit dafür? Wohlklingende Antworten gibt der World Business Council for Sustainable Development.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Grosse Herausforderung oder Augenwischerei?

Plastikabfall der Millionenstadt Bekasi auf der Insel Java in Indonesien wird rezykliert.
© Laurent Weyl / Argos / Panos

Die Uno-Agenda 2030 ist der globale Bezugsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Er gilt für alle, sowohl die Regierungen aller Staaten, die Zivilgesellschaft und für den gesamten privaten Sektor. Wörtlich verpflichtet das 2015 in New York verabschiedete Dokument alle Unternehmen, «ihre Kreativität und ihren Innovationsgeist für die Lösung von Problemen der nachhaltigen Entwicklung einzusetzen.»

Papier ist geduldig, sagt der Volksmund. Erst recht gilt dies für jenes Papier, auf das internationale Übereinkommen und Absichtserklärungen wie die Sustainable Development Goals (SDG) gedruckt sind. Wie ernst nimmt der Corporate Sector, die globalisierten, multinational organisierten Unternehmen, die über schier grenzenlose finanzielle Mittel und Möglichkeiten verfügen, die nachhaltige Entwicklung? Und wer übernimmt den Lead im Prozess, der die globale Wirtschaft auf Nachhaltigkeit trimmen soll?

Bis heute haben die Vereinten Nationen keine Richtlinien oder Instrumente geschaffen, die darüber Auskunft geben, wie Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung (neu) ausrichten sollen. Noch weniger ist die Rede davon, Unternehmen auf Nachhaltigkeit zu verpflichten. NGOs kritisieren das Fehlen solcher Richtlinien und fordern, dass ein solcher zusätzlicher Rahmen zu den SDGs geschaffen werden müsse. Und sie befürchten, dass der Privatsektor die entscheidende Rolle missbraucht, die ihm die SDGs zuschreiben. Denn Nachhaltigkeit, die primär der Imagepflege geschuldet ist, ist alles andere als nachhaltig. Analog zu pseudoökologischem Verhalten (greenwashing) wird dafür heute der Begriff Rainbow washing gebraucht. Die grossen Fragen lauten: Wie lässt sich der positive Einfluss von Unternehmen auf das Erreichen der SDGs überhaupt messen? Wie kann man sie dazu bringen, negativen Auswirkungen, spezifisch auf Menschenrechte und Umwelt, Rechnung zu tragen? Welchen Grad an Transparenz können wir von sich gegenseitig konkurrierenden Unternehmen überhaupt erwarten? Wie nehmen Unternehmen NGOs wahr? Wie arbeiten sie mit der UNO und den Regierungen zusammen?

Die Antworten auf diese grossen Fragen fallen sicher ganz unterschiedlich aus, je nach CEO oder Board, dem man diese stellt. Anzunehmen ist, dass die meisten auf freiwillige Massnahmen bzw. ihre Eigenverantwortung pochen würden. Wir haben sie Filippo Veglio, dem Geschäftsleiter des World Business Council for Sustainable Development, gestellt. Der Stiftungszweck des WBCSD, der als Verein organisiert ist, lautet: Im Interesse seiner Mitglieder Antworten auf diese grossen Fragen zu geben und «den Übergang zu einer nachhaltigen Welt zu beschleunigen.»

Annäherung an die SDGs

Laut der UNO sollen Unternehmen durch ihre Aktivitäten einen entscheidenden Beitrag zum Erreichen der SDGs leisten. Um das zu schaffen, sollen sie positive wie negative Auswirkungen ihres Wirkens bewerten, sich ehrgeizige Ziele setzen und transparent über die Ergebnisse kommunizieren. Laut Veglio nähert sich der WBCSD dieser Herausforderung aus vier Perspektiven an: Risiken, Chancen, Governance und Transparenz sowie Zusammenarbeit. Darüber hinaus stellt der WBCSD die Menschenrechtsperspektive in den Mittelpunkt seiner Arbeit und erinnert seine Mitglieder daran zu prüfen, wo die negativen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit liegen. «Dies ist ein entscheidender Beitrag, den Unternehmen zur Realisierung der SDGs leisten können», so Veglio. Dieser Ansatz orientiert sich an den UN-Richtlinien für Unternehmen und Menschenrechte, die auf der WBCSD-Website im CEO Guide to Human Rights ihren Niederschlag finden. Der WBCSD betont, dass Nachhaltigkeit sich nicht auf Innovation und Profitgelegenheiten beschränken dürfe, sondern dass sie auch den wichtigen Aspekt der Verantwortung umfasse.

Auf die Frage, ob freiwillige Ansätze ausreichen oder – so wie es in der Schweiz die Konzernverantwortungsinitiative verlangt – ein gesetzlicher Rahmen Unternehmen zur Wahrnehmung von Verantwortung verpflichten soll, bleibt Veglio vage: «Die Unternehmen sind nicht gegen alles, sie haben Lösungen, verfolgen pragmatische Ansätze. Wir beteiligen uns jedoch nicht an Diskussionen und Debatten im Schweizer Parlament, sondern versuchen die systemischen Fragen ins Zentrum zu rücken, mit denen wir uns befassen sollten.»

Ein Hauptziel seiner Arbeit sieht der WBCSD darin, die 17 Ziele und 169 Unterziele so zu übersetzen, dass die SDGs für Unternehmen in der Praxis umsetzbar werden, wobei den vier erwähnten Perspektiven folgende Überlegungen zugrunde liegen:

  • Was bedeuten Risiken wie Wasserknappheit oder Klimawandel konkret für ein Unternehmen? Nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon jetzt in Bezug auf das Geschäftsmodell, die Reputation oder mögliche Regulierung: Denken Unternehmen hier proaktiv genug?
  • Aus der Geschäftsperspektive bieten die SDGs auch Chancen: Es geht um Lösungen, Innovation, Technologien, Partnerschaften und Expansion; die Erreichung der SDGs braucht es, um die Rentabilität eines Unternehmens zu erhalten.
  • Grosse Unternehmen müssen Rücksicht auf viele Systeme nehmen: Politiken, Governance- und Transparenz-Standards etc. Wie sollen diesbezügliche Anforderungen der SDGs in die Geschäftsberichte integriert werden? Welche Daten sollen mit Investoren, der Zivilgesellschaft, Regierungen, aber auch innerhalb des Unternehmens geteilt werden? Welche Art von Daten muss überhaupt erhoben werden?
  • Unabhängig von der Grösse und dem Einfluss eines Unternehmens innerhalb eines Wirtschaftszweigs braucht es Zusammenarbeit auch unter Konkurrenten, um die Herausforderungen in Wertschöpfungsketten anzugehen. Hier sieht der WBCSD Raum für Public Private Partnerships und die Zusammenarbeit mit NGOs.

Unternehmen und NGOs: Feinde oder Freunde?

Die SDGs postulieren den Dialog zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das Verhältnis zwischen Unternehmen und NGOs beurteilt der CEO des WBCSD positiv. Ihr Wissen, ihr Know-how und ihre oft jahrzehntelange Erfahrung erlaube NGOs eine stark an der Realität orientierte Sichtweise. NGOs seien wie kritische Freunde, wie ein Radar, das mit konstruktivem Engagement oder allenfalls auch einer Kampagne ein Unternehmen dazu drängen könne, mehr zu tun. Dank Daten, Technologie und sozialen Medien sei es heute ein Leichtes herauszufinden, was wirklich vor Ort geschehe, sagt Veglio. «Warum sollte ein Unternehmen Dinge behaupten, die nicht glaubwürdig sind? Gut, man kann ins Feld führen, noch nicht alle Firmen seien soweit, aber es ist unser Ziel, sie dorthin zu bringen. Wie könnten wir sonst gegenüber unseren ‚kritischen Freunden‘ glaubwürdig sein? Um dem Risiko des Rainbow Washing zu begegnen, fordern wir unsere Mitglieder auf, glaubwürdig zu sein und die Kritik der NGOs ernst zu nehmen.»

Auch Nachhaltigkeit ist Wettbewerb

Als Vertreter eines Wirtschaftsverbands ist für Veglio klar, dass Unternehmen nicht über Methoden, sondern über die Leistung konkurrieren sollten; sie sollten sich zwar auf Methoden einigen, dann jedoch die Besten gewinnen lassen, denn «in diesem 'Rennen um Nachhaltigkeit' wird es Gewinner und Verlierer geben.» Für jene, die in diesem Wettbewerb auf der Strecke bleiben, brauche es eine Art Puffer, die beim Übergang zu nachhaltigem Wirtschaften eingebaut werden müssten. «Hier müssen wir mit den Regierungen zusammenarbeiten; und die drängenden Fragen der NGOs beantworten können: Wie kommunizieren Sie Ihre Steuerdaten? Wie bezahlen Sie Ihre Mitarbeiter?».

Wirkungsmessung

Von Unternehmen zu erwarten, dass sie sich in Richtung nachhaltige Entwicklung bewegen und zur Erreichung der SDGs beitragen, ist eine Sache. Die tatsächlichen Auswirkungen messen zu können, eine andere. Laut Filippo Veglio zeigen zwei Beispiele, dass verschiedene Ansätze möglich sind: Der eine ist business-driven, der andere policy-driven.

Eine vor 15 Jahren vom WBCSD in Zusammenarbeit mit dem World Resources Institute entwickelte Methodik, das Greenhouse Gas Protocol (GHG Protocol), habe letztlich zur Offenlegung der CO₂-Emissionen geführt. Dies sei ein Beispiel für einen freiwilligen Ansatz der Businesswelt, der zur Entwicklung gemeinsamer Methoden geführt habe und von Unternehmen und Regierungen gleichermassen akzeptiert werde.

Ein anderes Beispiel betreffe die Rolle der Zentralbanken bei der Identifikation systemischer Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Als Gouverneur der Bank von England hatte Mark Carney die Unfähigkeit des Systems angesprochen, die Auswirkungen des Klimawandels auf Vermögenswerte, Investitionen, Unternehmenspolitik und systemische Risiken für das Finanzsystem zu definieren. Und dies trotz der offensichtlichen Gefahr kollabierender Vermögenswerte, massiver Abwertung und so weiter. Bei diesem Ansatz komme der Druck «von oben», eine klimabezogene finanzielle Offenlegung und Transparenz zu schaffen. Laut Veglio hat der WBCSD in diesem Fall Stakeholder an einen Tisch gebracht, um zu versuchen, die Richtlinien der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) auf sektoraler Ebene für Unternehmen etwa in den Bereichen Öl, Energie und Chemie umzusetzen.

Negative Auswirkungen durch positive Beiträge kompensieren?

Mit seiner Arbeit will der WBCSD auch negative Auswirkungen der Geschäftstätigkeit seiner Mitglieder auf die Menschenrechte verringern. Der sogenannte SDG-Kompass – eine Zusammenarbeit zwischen der Global Reporting Initiative (GRI), dem UN Global Compact und dem WBCSD – gibt Anleitungen, wie die UN-Richtlinien in Unternehmen umgesetzt werden sollten. Ein Bekenntnis zur Förderung von Menschenrechten oder zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung könne die Übernahme echter Verantwortung jedoch nicht ersetzen. In diesem Zusammenhang erinnert Veglio daran, dass im Umweltbereich viel über Kompensationsmechanismen diskutiert werde, um einen Ausgleich zu Emissionen oder Verschmutzung zu ermöglichen. «Im sozialen Bereich ist es nicht möglich, grundlegende Herausforderungen, mit denen Sie in Ihren Lieferketten konfrontiert sind, zu kompensieren. Die Unternehmen müssen sich den systemischen Herausforderungen stellen, mit denen sie in Bezug auf Preise, Produktionsbedingungen, Löhne, Arbeitsbedingungen und Zulieferer konfrontiert sind.»

Fazit

Die SDGs verlangen tiefgreifende Veränderungen von der Wirtschaft; dementsprechend lancieren einzelne ihrer Verbände wie der WBCSD klare Aufrufe zum Handeln. Und einige prominente Wirtschaftsführer zeigen sich offen dafür. Doch wird die notwendige Transformation schnell genug erfolgen? Ist die Messlatte hoch genug gelegt? Alliance Sud bleibt dran und wird den kritischen Austausch mit dem WBCSD fortsetzen.

Das gesamte Interview im englischen Original-Wortlaut ist hier nachzulesen.

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