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Meinung
Ein Sommertag im Süden – und der Krieg geht weiter
05.07.2022, Internationale Zusammenarbeit
Eins muss man ihm zugestehen: Ignazio Cassis hat sich für «seine» Konferenz in Lugano richtig ins Zeug gelegt. Höchste Zeit, dass der Bundespräsident die gleiche Energie zur Bekämpfung der globalen Hungerkrise und für die Agenda 2030 an den Tag legt.
Nach dem ganzen Brimborium anlässlich der Ukraine-Konferenz in Lugano werden sich die Schweizer DiplomatInnen wohl gegenseitig auf die Schultern klopfen – auch wenn die grossen Namen der Weltpolitik schlussendlich fehlten. Kein Wunder, hat doch auch der Schweizer Aussenminister die globale Konferenz gegen die Hungerkrise in Berlin geschwänzt. Trotzdem hat die «Lugano-Deklaration» zumindest ein Ziel erreicht und die politischen Voraussetzungen festgelegt für den demokratischen Wiederaufbau in der Ukraine, wobei die internationale und lokale Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen wird.
Das Ende des Krieges scheint aber noch in weiter Ferne und bis dann kann der Wiederaufbau nicht umfassend und nachhaltig in Angriff genommen werden. Es gilt weiterhin, die dramatischen Folgen so gut wie möglich zu lindern: in der Ukraine wie global. Und auch in der Schweiz gibt es viel zu tun, da ihr Finanzplatz und Rohstoffhandel die Kriegsführung und die Korruption anderswo oft erst ermöglichen. Gerade auch in Lugano, was Cassis in den letzten zwei Tagen strahlend ausgeblendet hat.
Die Bevölkerung will mehr globale Zusammenarbeit
Die Schweizer Bevölkerung hat für die Ukraine eine grosse Solidarität an den Tag gelegt: Fast 300 Millionen Schweizer Franken hat sie via Spenden an Hilfsorganisationen bisher bereitgestellt. Die offizielle Schweiz hat in Lugano zwar angekündigt, dass sie die bilaterale Zusammenarbeit auf 100 Millionen verdoppeln wird; unverständlich ist jedoch die Absicht, dass dieses Geld aus dem aktuellen Budget der internationalen Zusammenarbeit kommen soll.
Für die eigene Armee will das Schweizer Parlament ab 2030 zwei zusätzliche Milliarden pro Jahr einsetzen; für eine umfassende Friedenspolitik auf der ganzen Welt, wie sie eine Mehrheit der Bevölkerung will, ist die Politik aber nicht bereit, tief in die Tasche zu greifen. So wichtig die Unterstützung des Wiederaufbaus und der Zivilbevölkerung in der Ukraine ist – 50 zusätzliche «Milliönchen» sind dabei sicher nicht genug –, so zentral ist es, dass dieses Geld zusätzlich gesprochen wird und nicht auf Kosten der ebenso dringlichen Aufgaben in anderen Ländern geht.
Agenda zu voll für die Agenda 2030?
In New York beginnt heute das High-Level Political Forum zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030). Leider wird der Bundespräsident an diesem wichtigen Anlass nicht vor Ort sein, weil scheinbar Wichtigeres auf ihn wartet. Hoffentlich denkt er in dieser Zeit über eine umfassende Friedenspolitik der Schweiz nach und geniesst ein paar Sommertage in seiner Wohngemeinde Collina d’Oro, wo einst auch der Nobelpreisträger für Literatur Hermann Hesse lebte und kurz nach dem ersten Weltkrieg schrieb:
«Im Frieden, als unser Reichgewordenen Landsleute noch unbehindert reisen konnten, da traf man im Sommer keinen von ihnen im Süden an. Im Sommer war der Süden, einem dunklen Gerücht zufolge, unerträglich heiss und von phantastischen Plagen erfüllt, und man zog es vor, in Nordland zu sitzen oder in einem Alpenhotel auf zweitausend Meter Höhe den Sommer durchzufrieren. Jetzt ist das anders, und wer einmal das Glück gehabt hat, seine Person und seine Kriegsgewinne nach dem Süden zu exportieren, der bleibt da und geniesst, unter Gottes allesduldender Sonne, die Segnungen dieses Sommers mit. Wir alte Auslandsdeutsche treten sehr in den Hintergrund, sind auch mit unsren sorgenvollen Gesichtern und Fransen an unsern Hosen nicht recht präsentabel. Dafür wird unser Volk glanzvoll durch eben jene Herrschaften vertreten, die sich hier mit Hilfe der rechtzeitig weggeschmuggelten Gelder Häuser, Gärten, und Bürgerrecht gekauft haben.» (Aus: Sommertag im Süden, Tessin, 1919).