Meinung

Die Zeit ist reif für eine Veränderung

03.10.2022, Internationale Zusammenarbeit

Lateinamerika hat genug von der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Korruption rechter Regierungen, die die eigentlichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung ignorieren, schreibt die guatemaltekische Journalistin Mariela Castañón.

Die Zeit ist reif für eine Veränderung
Ausgangssperre nach Protesten gegen ein Nickelabbauprojekt, im Oktober 2021. Die Polizei durchsucht einen Mann an einem Kontrollpunkt in El Estor in der nördlichen Küstenprovinz Izabal, Guatemala.
© AP Photo/Moises Castillo

In den letzten Jahren konnten in Ländern wie Mexiko, Bolivien, Peru, Honduras, Chile und Kolumbien linke Regierungen die Wahl für sich entscheiden. Darin widerspiegelt sich die unmissverständliche Forderung der Bevölkerung, die Sozialpolitik zu priorisieren. Es ist eine augenfällige Verdrossenheit gegenüber den rechten Regierungen spürbar, die ihren Bevölkerungen nicht nur nichts hinterlassen haben, sondern im Gegenteil die Staatskassen plünderten, um sich selbst zu bereichern. Obwohl jedes Land seine eigenen Gründe für die Wahl einer neuen Regierung hat, sind die Probleme, die uns plagen, ähnlich. Sie heissen Armut, extreme Armut und Ungleichheit.

Die Corona-Pandemie hat die Probleme noch verschärft, mit denen wir uns in Lateinamerika seit Jahrzehnten herumschlagen. Der Zusammenbruch der Gesundheits- und Bildungssysteme, die Arbeitslosigkeit, der Mangel an menschenwürdigen Unterkünften und die Lebensmittelknappheit – all dies verdeutlicht, warum jetzt linke Regierungen den Wandel herbeiführen sollen.

Mit traumwandlerischer Regelmässigkeit bandelt die politische Rechte mit der privilegierten und korrupten Elite an, die sich nicht für das Wohl der ärmsten Bevölkerungsschichten einsetzt, sondern sich vielmehr der Anhäufung von Vermögen und Verteidigung ihrer eigenen Interessen und der ihrer engsten Vertrauten verschrieben hat. Nun muss dafür gesorgt werden, dass es zu Veränderungen kommt, die diesen Namen verdienen, und dass den Reden linker RegierungsvertreterInnen Taten zum Wohl der Bevölkerung folgen – und nicht Populismus, Demagogie und Autoritarismus, wie wir es ebenfalls erlebt haben.

Nicaragua ist ein Beispiel jener autoritär regierten Länder, die Kritik mit brutaler Willkür begegnen. Heute ist Nicaragua kein Paradebeispiel für eine Identifikation mit der Linken mehr, wie dies einmal der Fall war. Aktuell sitzen unzählige Menschen in Nicaragua im Gefängnis, weil sie sich gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo aufgelehnt haben; andere wurden ins Exil gezwungen. Die Unterdrückung und Gewalt, der unsere mittelamerikanischen Brüder und Schwestern ausgesetzt sind, ist schier grenzenlos. Es erfüllt uns mit Schmerz, sie so leiden zu sehen. Auch in vielen anderen Ländern wurde ein ähnlicher Weg eingeschlagen.

Zwischen Zweifel und Hoffnung

Es ist schwer vorherzusagen, was die lateinamerikanische Linke generell bewirken kann, denn obwohl ein Wandel angestrebt wird, ist die Politik nicht gefeit vor unerwarteten Ereignissen. Es liegt an uns, die von uns gewählten Regierenden zu beobachten und als engagierte und verantwortungsvolle BürgerInnen zu handeln. Selbstverständlich ist es nicht einfach, sich als Bürgerin, sozialer Aktivist oder Journalistin in Ländern zu engagieren, in denen Unterdrückung und Gewalt an der Tagesordnung sind und in denen unsere Menschenrechte und Verfassungsgarantien missachtet werden.

In meinem Heimatland Guatemala zum Beispiel, einem mittelamerikanischen Land mit über 17 Millionen EinwohnerInnen, ist die Angst unsere ständige Begleiterin, wenn wir das Wort gegen die korrupten Machthaber erheben oder uns für die Lebensräume und die Rechte der indigenen Gemeinschaften einsetzen.

Im März 2022 erfuhren wir von «Mining Secrets», einem Projekt, das vom Netzwerk «Forbidden Stories» in Zusammenarbeit mit 40 JournalistInnen aus der ganzen Welt koordiniert wurde und Umweltskandale von Bergbauunternehmen aufdeckte. JournalistInnen, die über Proteste der Bevölkerung gegen ein lokales Bergbauunternehmen, eine Tochtergesellschaft der in der Schweiz ansässigen und von russischen und estnischen Staatsangehörigen betriebenen Solway Group, informierten, wurden von den guatemaltekischen Behörden und Personen, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen, bedrängt.

«Forbidden Stories» wurden von einem Hackerkollektiv, das sich nach einer einheimischen Papageienart «Red Macaw» nennt, Hunderte von Dokumenten zugespielt. Die Unterlagen stammten offenbar von der Tochtergesellschaft der Solway Group und enthüllten, wie Journalistinnen und Journalisten, die über das Bergbauunternehmen berichteten, von den Sicherheitsdiensten des Unternehmens erfasst, überwacht und sogar verfolgt wurden.

Es stellte sich heraus, dass das Unternehmen einen Betrag für die Drohnenüberwachung der lokalen Bevölkerung und der JournalistInnen budgetiert hatte. Diese durchgesickerten Informationen zeichnen ein Bild von Strafffreiheit und Täterschutz. Die Missbräuche gegen die Presse, die Umwelt und die guatemaltekische Bevölkerung blieben ohne Folgen.

«Mining Secrets» enthüllte auch wissenschaftliche Studien und durch «grosszügige» Spenden des Unternehmens «gekaufte Freundschaften». Darüber hinaus wurde publik, welche Strategien die Mine anwandte, um Familien zu vertreiben und zu stigmatisieren, um sich so Zugang zu den Ferronickelvorkommen zu verschaffen, die sich unter deren Häusern befinden.

Zweifellos zwingen uns die Umweltkrise und die globale Erwärmung, unsere Lebensweise zu ändern und die Industriepolitik zu stoppen, welche die Umwelt und das Leben der Bevölkerung schädigt, die dadurch Risiken ausgesetzt ist. In Guatemala scheint man sich dieser Schäden jedoch noch nicht bewusst zu sein, und die Regierungen erteilen Lizenzen für die Fortsetzung unkontrollierter Bergbauaktivitäten, die früher oder später einen hohen Tribut fordern werden.

Die Integrität und das Leben von sozialen AktivistInnen, engagierten BürgerInnen und JournalistInnen sind ständig in Gefahr, weil öffentliches Anprangern, Aktivismus und wahrheitsgemässe und aktuelle Informationen das Vorgehen mächtiger Unternehmen aufdecken, die oft genug vom Staat selbst geschützt werden. Die Folge sind Überwachung und Drohgebärden, und nicht selten bezahlen diese Menschen ihr Engagement auch mit dem Leben.

Ein echter Wandel

Als BügerInnen des Globalen Südens haben wir die Kraft, weiter für unsere Anliegen zu kämpfen, und geben die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages Regierungen an der Macht sind, bei deren Sozialpolitik der Mensch im Mittelpunkt steht. Der Wechsel hin zu linken Regierungen spiegelt die Dringlichkeit und den Wunsch wider, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu überwinden, die rechte Regierungen, die für ihre Untätigkeit und Korruption berüchtigt sind, uns beschert haben.

Es bleibt zu hoffen, dass die linken Regierungen die von ihren Vorgängern geführte Politik umkehren werden, andernfalls ist eine weitere Enttäuschung für Millionen von Menschen auf dem Kontinent vorprogrammiert. Lateinamerika braucht fähige Machthaber mit transparenten und legitimen Strategien zur Transformation der Gesundheits-, Bildungs-, Ernährungs-, Sicherheits- und weiterer Systeme, damit sich die Veränderung auszahlt.

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© Mariela Castañón


Die guatemaltekische Journalistin Mariela Castañón ist Professorin für Deontologie der Kommunikation an der Universität Rafael Landívar. Diesen Sommer war sie in der Schweiz und hat am Austauschprogramm von «En Quête d’Ailleurs (EQDA)» teilgenommen.