Global, Meinung

Die Macht der Bildung

22.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Joyce Ndakaru möchte, dass den Maasai-Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden. Ihre persönliche Geschichte zeigt, dass dies keine Utopie bleiben muss.

Ich bin in einer sehr traditionellen Maasai Boma aufgewachsen, in der die Männer das Sagen hatten und die Aufgaben verteilten. Als kleines Mädchen, noch keine 6 Jahre alt, musste ich die Kühe und Ziegen melken, Brennholz sammeln und das Haus fegen, das Geschirr spülen und auch Essen zubereiten. Von etwa 8 bis 12 Jahren, als heranwachsendes Mädchen, das bald Mutter wird, bereitet man sich darauf vor, verheiratet zu werden. So kommen neue Aufgaben hinzu. In dieser Zeit beginnen die Mädchen, Kühe zu hüten und deftige Mahlzeiten zuzubereiten. Auch sind sie immer noch für das Sammeln von Brennholz zuständig.

Jungen hingegen melken nicht, kochen nicht und fegen nicht, denn sie sind Männer. Sie aber kümmern sich um die Ziegen. Sie sammeln auch Steine und stellen sich vor, diese seien ihre Kühe oder sie spielen «Heiraten». Auf diese Weise bereiten sie sich auf ihre Zukunft als mächtige Männer mit grossen Kuhherden vor. Mädchen hingegen haben keine Zeit zum Spielen, ja es wird sogar als Schande angesehen, wenn ein Mädchen beim Spielen ertappt wird. Als Kind wusste ich natürlich noch nichts von Kinderrechten und deshalb hielt ich das nicht für ungerecht. Das wurde mir erst viel später im Leben bewusst.

Ich hatte das Glück, zur Schule gehen zu dürfen. Ich durfte aber nicht deshalb in die Schule, weil ich von meinen Eltern geliebt wurde, sondern vielmehr als Strafe, weil ich nicht sehr gut im Melken und im Ziegenhüten war. Ich hatte Angst, dass die Kühe mich treten würden, und wenn ich Ziegen hüten musste, liefen mir immer ein paar davon. Auch das Sammeln von Brennholz gefiel mir nicht und ich musste dabei häufig weinen. Also beschloss mein Vater, mich zur Schule zu schicken, um mir Disziplin beizubringen. Er dachte, wenn ich den Lehrern gehorchen müsse und körperliche Züchtigung erfahre, würde ich zu einem besseren Kind. Mir aber gefiel die Schule sehr und ich war eine ausgezeichnete Schülerin. Von der 3. bis zur 7. Klasse war ich stets Klassenbeste. Mein Vater hatte jedoch nie vor, mich auf die Sekundarschule zu schicken; er hielt die Primarschule für Strafe genug. Als ich die Primarschule abschloss, hatte er schon etliche Heiratsangebote für mich erhalten; tatsächlich hatte er auch schon einen Mann für mich ausgesucht. Er war älter als er selbst (etwa 60-jährig).

Ich stand also kurz davor, verheiratet zu werden, als etwas geschah, was ich als Gnade Gottes bezeichne. Vertreter der Maasai Girls Lutheran Secondary School gingen zu jenem Zeitpunkt in die Maasai-Dörfer und hielten nach armen Maasai-Mädchen Ausschau, die Gefahr liefen, verheiratet zu werden. Sie luden mich und einige Maasai-Mädchen aus anderen Dörfern ein, eine schriftliche Prüfung abzulegen. Wiederum schnitt ich sehr gut ab und wurde als Einzige aus der Gruppe ausgewählt, auf die Sekundarschule zu gehen. Geplant war eigentlich, mehr als ein Mädchen für die Sekundarschule auszuwählen, aber ich bestand als Einzige die Prüfung. Die anderen Mädchen fielen aber nicht durch, weil sie nicht intelligent genug gewesen wären, sondern weil ihre Familien sie entsprechend angewiesen hatten. Auch mir wurde gesagt, ich solle bei der Prüfung durchfallen und ich hatte meiner Familie versprochen, nur unleserliche Dinge aufzuschreiben. Am Ende aber hielt ich mein Versprechen nicht, während die anderen Mädchen das ihrige hielten.

Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte, fragten mich die Lehrer: «Glaubst du, deine Eltern werden dir erlauben, auf die Sekundarschule zu gehen?» Ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl, als ich mit leiser Stimme antwortete: «Nein, ich glaube nicht, dass meine Eltern mir das erlauben würden. Können Sie mir helfen?» Also kamen sie mit mir in mein Dorf, um meiner Familie mitzuteilen, dass ich auf die Sekundarschule gehen dürfe. Ich hatte grosse Angst und dachte, dass meine Eltern mich umbringen würden, weil ich mich daran erinnerte, dass die Grundschullehrer mich gebeten hatten, den Namen meiner kleinen Schwester aufzuschreiben, damit sie in der Schule eingeschrieben werden konnte. Als mein Vater herausfand, was ich getan hatte, bestrafte er mich und jagte mich aus dem Haus. Meine Schwester durfte nie zur Schule gehen und hat bis heute ein sehr hartes Leben.

Jedenfalls erzählten die Lehrer und ich meiner Familie, dass ich die Prüfung bestanden hatte. Sie waren sehr wütend auf mich und sagten mir, ich sei eine Schande für meine Familie, würde meine Gemeinschaft nicht achten und hätte meine Kultur verraten. Ich versuchte, sie zu beschwichtigen, doch schliesslich sagte mein Vater, ich sei nicht mehr sein Kind, und sie rissen mir all meinen Maasai-Schmuck vom Leib und liessen mich gehen. Meine Mutter durfte nichts sagen, weil sie eine Frau ist und nichts zu entscheiden hat.

Mit leeren Händen ging ich zur Schule und lebte dort mehrere Jahre lang, ohne dass mich je jemand besuchte. Ich konnte auch meine Familie nicht besuchen, da mein Vater mich mit Sicherheit verheiratet hätte, wenn ich nach Hause gegangen wäre. Mein Vater brauchte viel Zeit, um zu akzeptieren, dass ich nicht nach Hause kommen würde, aber nach ein paar Jahren kam er mich in der Schule besuchen. Sie hätten beschlossen, dass ich die Sekundarschule abschliessen dürfe, sagte er mir und bat mich, in den Schulferien nach Hause zu kommen. Er versprach mir, dass ich nicht heiraten müsse. Obwohl sie ihr Versprechen hielten und mich nicht verheirateten, taten sie alles, um mich davon abzubringen, zur Schule zurückzukehren. Sie erzählten mir, dass meine Klassenkameradinnen inzwischen alle mehrere Kinder, ihr eigenes Zuhause und eine eigene Familie hätten und dass ich verloren sei und nicht einmal mehr meine Kultur kennen würde. Obwohl sie meinen Namen jedes Jahr in der Zeitung lesen konnten, da ich Jahr für Jahr als Klassenbeste erwähnt wurde, setzten sie mich weiter unter Druck und unterstützten mich auch finanziell nicht.

Dank eines anonymen Spenders konnte ich die Sekundarschule abschliessen. Danach wusste ich nicht, was ich tun sollte, denn es wird erwartet, dass einem die Familie nach der Sekundarschule durch die Universität hilft. Wieder hatte ich grosses Glück, denn Reginald Mengi, der ehemalige Besitzer von IPP News, war als Ehrengast bei unserer Abschlussfeier anwesend. Während seiner Rede fragte er, wie viele von uns gerne an die Universität gehen würden, um Journalismus zu studieren. Ich und einige andere hoben die Hand, ohne zu wissen, was er vorhatte. Er notierte sich unsere Namen und bezahlte dann unsere Studiengebühren. Mit seiner Unterstützung habe ich es dorthin gebracht, wo ich heute stehe: Ich bin Hochschulabsolventin, Programmbeauftragte mit über neun Jahren Erfahrung, die ich bei verschiedenen NGOs in Tansania gesammelt habe, Gender-Aktivistin, verantwortungsbewusste Mutter und ein Vorbild für meine Familie und die Maasai-Gemeinschaft, vor allem für die Frauen.

Heute sind mein Dorf und meine Familie stolz auf mich. Meine ehemaligen Klassenkameradinnen, die inzwischen Grossmütter sind, weil sie alle mit 12 oder 13 Jahren verheiratet wurden, bewundern mich. Damals lachten sie mich aus und warfen mir vor, meine Eltern nicht zu respektieren; aber jetzt wünschen sie sich alle, sie wären auch zur Schule gegangen. Sie sagen mir, dass ich grosses Glück habe, für mich selbst sorgen zu können, während sie gänzlich auf ihre Männer angewiesen sind. Sie sagen mir sogar, dass ich wegen meines Lebensstils viel jünger aussehe als sie. Viele schicken jetzt ihre Kinder zur Schule, sehen mich und einige andere, die es weit gebracht haben, als Vorbilder und sagen ihren Kindern, sie sollen unserem Beispiel folgen. Sogar mein Vater ist jetzt sehr stolz auf mich. Ich schicke ihm Geld und unterstütze auch meine Geschwister und andere Familienmitglieder. Obwohl keine der anderen Töchter meines Vaters nach mir zur Schule gehen durfte, schicken nun einige meiner Brüder ihre Mädchen zur Schule.

Langsam ändern sich die Dinge, auch wenn viele der Mädchen, die jetzt zur Schule gehen, am Ende immer noch heiraten und ein traditionelles Leben führen; aber wenn man sie anschaut, kann man doch einige Unterschiede erkennen. Sie sind klug, sie kümmern sich besser um ihre Kinder und kochen gesünderes Essen. Einige Männer erkennen den Wert einer Frau mit einer guten Bildung. Ich wünsche mir einfach, dass alle Massai aufgeklärt werden und ihre Jungen und Mädchen zur Schule schicken und erkennen, dass es nichts Schlechtes ist, wenn sie ihren Töchtern erlauben, zur Schule zu gehen, und dass dies sie nicht davon abhält, Massai zu sein. Ich träume davon, eine NGO namens «Maasai Women's Voice» zu gründen, um den marginalisierten Maasai-Frauen eine Stimme zu geben, die seit vielen Jahren unterdrückt werden. Ich möchte eine Plattform schaffen, wo ihre Meinung und ihre Stimme wertgeschätzt werden. Ich möchte, dass den Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden.

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