Meinung

«Der Kampf für Gerechtigkeit geht weiter»

02.10.2023,

Der Krieg in Darfur hat seine Heimatstadt Nyala zerstört. Aber nicht den Ruf nach Gerechtigkeit und Frieden, schreibt der sudanesische Journalist und Menschenrechtsbeobachter Ahmed Gouja.

«Der Kampf für Gerechtigkeit geht weiter»

Im Jahr 2021 begannen viele der Binnenvertriebenen in Nyala, in benachbarte Dörfer umzusiedeln. Doch der blutige Konflikt der letzten Monate im Sudan zwang diese Frauen, erneut zu fliehen.
© Ala Kheir

Wochenlang hatten Explosionen und Schüsse unser Viertel erschüttert; wir schlossen uns in unseren Häusern ein und die Kinder versteckten sich unter den Betten. Dann geschah das Unvermeidliche: Eine Granate durchschlug das dünne Blechdach unseres Hauses. Mein achtjähriger Neffe Muhanad sass auf dem Schoss seiner Mutter, als die Granate fast geräuschlos in unserem Wohnzimmer einschlug. Sie traf ihn am Kopf und verwundete ihn so schwer, dass er beinahe gestorben wäre. Geschichten wie diese sind in meiner Heimatstadt Nyala, der grössten Stadt der sudanesischen Region Darfur, an der Tagesordnung. Wie ein grosser Teil von Darfur wurde sie durch den im April ausgebrochenen Krieg zwischen der Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces zerstört.

Als Journalist und Menschenrechtsaktivist habe ich jahrelang den Konflikt in Darfur dokumentiert. Aber nichts konnte mich darauf vorbereiten, wie es sich anfühlt zu sehen, wie meine Stadt geplündert wird, wie meine Verwandten und Freunde getötet werden, wie meine Nachbarn ihre Arbeit verlieren und allmählich verhungern. Ich habe gelernt, dass Krieg nicht nur Tod und Zerstörung bedeutet. Krieg wirkt sich auch auf unser Handlungsbewusstsein aus: Er gibt uns das Gefühl, machtlos zu sein, nichts tun zu können, um die Dinge zu verbessern.

Als mein Neffe von der Granate getroffen wurde, brachten wir ihn in ein örtliches Krankenhaus und mussten feststellen, dass alle Ärzte geflohen waren und es nicht einmal ein Bett für ihn gab. Stundenlang sassen wir mit Verbandszeug da und versuchten, die Blutung zu stoppen. Wir fühlten uns völlig hilflos. Später an jenem Tag begaben wir uns zu einem der wenigen privaten Krankenhäuser, die noch geöffnet waren. Die Operation kostete Tausende von Dollar. Wir konnten das Geld aufbringen; andere Familien, die mit sterbenden Angehörigen kamen, konnten dies nicht.

Der Onkel tot, der Nachbar erschlagen

Ich wurde 1985 geboren, nur wenige Jahre bevor unser ehemaliger, autokratischer Präsident Omar al-Bashir durch einen Militärputsch an die Macht kam. Er hielt sich drei Jahrzehnte lang an der Macht und terrorisierte die Darfuris in seiner Amtszeit. 2003, als der Krieg in Darfur ausbrach, besuchte ich die Sekundarschule. Rebellen mit überwiegend nicht-arabischem Hintergrund protestierten gegen ihre Ausgrenzung und lehnten sich gegen die Regierung von al-Bashir auf. Dieser reagierte mit der Bewaffnung der als Janjaweed bekannten arabischen Miliz von Darfur, welche Millionen von nicht-arabischen Menschen aus Darfur vertrieb und sich dann deren Land aneignete. Später wurde sie in die Rapid Support Forces (RSF) umgewandelt  ̶  jene paramilitärische Gruppierung, die heute gegen die Armeeeliten kämpft, die sie selbst hervorgebracht hat.

Der derzeitige Krieg brach in Khartum aus, breitete sich aber schnell auf Darfur aus. In einigen Gebieten verüben die RSF und verbündete arabische Milizen Angriffe auf die nicht-arabische Bevölkerung und setzen damit das fort, was vor 20 Jahren begann. In Städten wie Nyala hingegen kämpfen sie hauptsächlich gegen die Armee. Die ersten Wochen des Konflikts in Nyala waren die schwierigsten. Verwandte zu beerdigen, wurde für die Menschen zu einer traurigen Alltagsbeschäftigung. Das Artilleriefeuer der Armee war omnipräsent. Dann kam die Nachricht, dass ein Bekannter in Stücke geschnitten worden war.

Die Motorradmiliz und illegale Märkte

In diesen ersten Wochen erlebte ich oft, dass Erwachsene aus dem Nichts zusammenbrachen und weinten. Bei uns zu Hause herrschte die Gewissheit, dass wir sterben würden, dass wir keine Überlebenschancen hatten. Und als ob die Angst, von einer Granate getroffen zu werden oder ins Kreuzfeuer zu geraten, nicht schon gereicht hätte, kam bald noch ein weiterer Schrecken hinzu: Eine mit der RSF verbündete arabische Miliz in Zivil, welche die Stadt auf Motorrädern unsicher macht und ausplündert. Diese Miliz weckt Erinnerungen an den Darfur-Konflikt von 2003. Damals überfielen berittene Janjaweed-Kämpfer Dörfer und plünderten Vieh und Hausrat. Der Unterschied zu heute besteht darin, dass die Miliz Grossstädte ins Visier nimmt.
In Nyala zeigt sich ein Bild der Zerstörung: Die Miliz und die RSF-Kämpfer haben Ministerien geplündert, Krankenhäuser, Märkte, Geschäfte und Häuser der Bevölkerung sowie die Büros internationaler Hilfsorganisationen leergeräumt.

Die Schlafsäle einer Schule für Waisenkinder in Nyala wurden ebenso zerstört wie ein Berufsausbildungszentrum, das einer neuen Generation von Jugendlichen in der Region handwerkliche Fähigkeiten vermittelt. Auch ein grosses Medikamentenlager, in dem Vorräte für die Menschen in ganz Darfur gelagert wurden, fiel den Raubzügen zum Opfer. Eine Druckmaschine zur Herstellung von Büchern für Primar- und Sekundarschüler in der gesamten Region wurde aus dem Gebäude des Bildungsministeriums entwendet.

Einige Zivilpersonen begannen, sich zu bewaffnen, um sich vor den Plünderungen zu schützen, andere wiederum beteiligten sich traurigerweise selbst daran. Nachdem die Milizen die besten Stücke mitgenommen hatten, zerpflückten Zivilist:innen den Rest: Möbel, Tische, Bücher und sogar die Dächer der Gebäude. Schon bald tauchte das Diebesgut – zusammen mit Waffen und Drogen – in den von der RSF kontrollierten Gebieten auf illegalen Märkten auf.

Lebensmittelknappheit und das Leiden der Frauen und Mädchen

Durch die Präsenz der Milizen sahen sich die Händlerinnen und Händler gezwungen, ihre Waren aus den Geschäften und Märkten abzuziehen und in ihren mit Vorhängeschlössern versehenen Häusern zu lagern. Infolgedessen ist es immer schwieriger geworden, in der Stadt Lebensmittel zu finden; die Preise dafür sind in die Höhe geschossen. Die Lebensmittelversorgung aus Khartum – unserer Hauptversorgungsquelle – ist versiegt, da sich die Kämpfe dort verschärft haben. Händler:innen bringen Waren aus den Nachbarländern Südsudan und Libyen, aber die schlechten Strassen und die unsichere Lage machen dies zu einem schwierigen Unterfangen. In meiner Familie wird oft nur eine einzige Mahlzeit pro Tag eingenommen – meist ist es das Mittagessen. Wir sind auf die Grosszügigkeit meiner Brüder angewiesen, die uns aus Saudi-Arabien Geld schicken.

Noch schlimmer ist die humanitäre Lage derjenigen, die in den riesigen Vertriebenenlagern am Rande von Nyala leben. In diesen Lagern leben die Opfer des Konflikts von Anfang 2000. Sie sind das unsichtbare Gesicht der aktuellen humanitären Krise. Viele der Vertriebenen sind von internationaler humanitärer Hilfe abhängig – die in Darfur ausgesetzt wurde – und von der täglichen Arbeit in Nyala, entweder auf dem Markt oder in den Häusern und Geschäften der Stadtbevölkerung. Frauen und Mädchen sind vom Konflikt besonders betroffen. Meinen Quellen zufolge werden einige von ihnen in Lagerhäusern und Hotels von RSF- und Milizangehörigen festgehalten und sexuell missbraucht.

Der Kampfgeist der Bevölkerung

Als Journalist, der in einer solchen Situation unzählige Informationen über WhatsApp erhält, ist das Konstruktivste, was ich tun kann, auf den sozialen Medien auf unsere Situation aufmerksam zu machen. Andere haben ihre Bemühungen darauf konzentriert, den Bedürftigen zu helfen. In meiner Gegend verteilt eine Gruppe Suppe, während eine andere in der Nachbarschaft zivile Kontrollpunkte eingerichtet hat, um die Bewegung der Motorradbanden einzuschränken.
Die Gemeindeleitung in einem der Anfang der 2000er Jahre eingerichteten Lager hat inzwischen eine lokale Initiative ins Leben gerufen, um geplünderte Medikamente aufzuspüren und sie an eines der grössten Krankenhäuser in Nyala zurückzugeben.

Es ist bewegend zu sehen, wie Menschen, die in grosser Not sind, anderen helfen. Zu Beginn des Konflikts wurde auch ein Waffenstillstandskomitee eingerichtet, das die Bemühungen von Gemeindevorständen und Behörden koordinieren soll. Sie versuchen gemeinsam, zwischen den örtlichen Armee- und RSF-Einheiten zu vermitteln und fordern die Beendigung des Krieges. Ähnliche Komitees wurden auch in anderen Teilen Darfurs gegründet, was die Entschlossenheit der Bevölkerung unterstreicht, sich einem Konflikt zwischen zwei Parteien zu widersetzen, die nur von wenigen Zivilist:innen unterstützt werden. Zunächst verzeichnete das Waffenstillstandskomitee in Nyala einen Erfolg: Es konnte eine Unterbrechung des Konflikts um das Eid al-Fitr am Ende des Ramadans verhandeln. Doch nach dem Eid ging der Krieg weiter.

Frieden erfordert Gerechtigkeit

Im Moment fällt es schwer, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Die RSF hat fast ganz Nyala und einen Grossteil des übrigen Darfur unter ihre Kontrolle gebracht, obwohl sich die Armee noch immer in einigen Stützpunkten verschanzt hat und es häufig zu Zusammenstössen kommt. Einige scheinen zu glauben, dass der Anführer der RSF, Mohamed Hamdan Dagalo «Hemedti», Darfur wieder aufbauen und weiterentwickeln wird. Ich sage ihnen, dass eine Miliz, die Bibliotheken, Schulen und Krankenhäuser zerstört, keine Demokratie bringen wird.

Was wir im Moment am dringendsten brauchen, ist humanitäre Hilfe. Internationale Hilfsorganisationen beurteilen die Lage in Darfur jedoch als zu unsicher, um dort tätig zu sein. Allerdings habe ich Kriege in anderen Ländern wie der Ukraine beobachtet, wo sie unter noch schwierigeren Bedingungen arbeiten. Warum also ist das hier nicht auch möglich? Die internationalen Akteure müssen ausserdem erkennen, dass Frieden Gerechtigkeit voraussetzt. Diese Krise wird nicht dadurch beendet, dass die Militärs verhandeln und Papiere unterschreiben. Ein Ende des Kugelhagels wird uns unsere Angehörigen nicht zurückbringen. Wir brauchen Wiedergutmachung und ein Ende der Straflosigkeit. Und schliesslich müssen wir als Darfuri weiterhin unsere Stimme erheben. Die Männer an den Waffen sprechen im Moment lauter als wir, aber auch wir können und müssen unsere Stimme erheben und die Welt wissen lassen, was wirklich geschieht.

War has destroyed my Darfur town – but I will keep fighting for justice

Editiert von Philip Kleinfeld, gekürzt und übersetzt von Alliance Sud.

Dieser Bericht wurde aus dem H2H-Fonds des H2H-Netzwerks finanziert, der von der britischen Entwicklungsagentur unterstützt wird. Die vollständige Version wurde im August von «The New Humanitarian» veröffentlicht. «The New Humanitarian» stellt unabhängigen Qualitätsjournalismus in den Dienst der Millionen von Menschen, die weltweit von humanitären Krisen betroffen sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.thenewhumanitarian.org. «The New Humanitarian» ist nicht für die Korrektheit der Übersetzung verantwortlich.