Meinung

Corona-Nebenwirkungen treffen nicht alle gleich

10.12.2020, Internationale Zusammenarbeit

In Nigeria stieg während der coronabedingten Abriegelung die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. UN Women hat diese weltweit beobachtete Tatsache als «Schattenpandemie» bezeichnet.

Corona-Nebenwirkungen treffen nicht alle gleich
Die Autorin – die nigerianische Agrarökonomin und Ökofeministin Oladosu Adenike Titilope – hat sich international einen Namen gemacht für ihr unermüdliches Engagement als Aktivistin für Klimagerechtigkeit, die sich u.a. auch für die Wiederherstellung des Tschadsees einsetzt. In Nigeria leitete Adenike als Vizepräsidentin im National Youth Service Corps (NYSC) mehrere Gemeindeprojekte zur Umsetzung der SDG. Weitere Artikel finden Sie auf ihrem Blog: http://womenandcrisis.blogspot.com/
© Oladosu Adenike Titilope

von Oladosu Adenike Titilope

Das nachhaltige Entwicklungsziel Nummer 5 will die Gleichstellung der Geschlechter erreichen. Wie überall stellen auch in Nigeria Frauen und Mädchen die Hälfte der Bevölkerung und damit die Hälfte des Entwicklungspotenzials dar. Doch die Ungleichheit der Geschlechter im Land ist omnipräsent und behindert den sozialen Fortschritt und die Entwicklung. Zwar verliehen die Millenniumsentwicklungsziele der Einschulung von Kindern auf der Primarstufe einen enormen Schub, doch in der Sekundarstufe bleiben die Mädchen bis heute weit hinter den Knaben zurück. Vor allem in den Dörfern auf dem Land bleiben Mädchen aus armen Familien stark benachteiligt.

Es ist unbestritten, dass der gleichberechtigte Zugang von Frauen und Mädchen zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, menschenwürdiger Arbeit und ihre Vertretung in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen die Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft sind. SDG 5 («Gender Equality») ist zwar ein eigenständiges Ziel, doch auch die anderen Ziele können nur erreicht werden, wenn den Bedürfnissen von Frauen dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt wird wie denen von Männern. Im Jahr 2000 unternahm Nigeria den mutigen Schritt, die nationale Frauenpolitik an der globalen Konvention über alle Formen der Diskriminierung von Frauen (CEDAW) auszurichten und dies gesetzlich zu verankern. Das Land formulierte Politiken und Programme, die darauf abzielen, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im sozioökonomischen und politischen Bereich zu verringern. Diese Politik ist jedoch zur Farce verkommen. So waren die nigerianischen Frauen während des Corona-Lockdowns mit einer doppelten Pandemie konfrontiert: Zu den wirtschaftlichen Folgen hatten sie einen sprunghaften Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt zu ertragen. Wie die Frauen über alle Kontinente und Kulturen hinweg fordern Nigerianerinnen das Recht, ihr Leben frei von Gewalt, in Frieden und Würde zu leben.

Zusätzliche Gewalt im Lockdown

Neuere Studien zeigen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Schutz der  Frauenrechte und der sozialen Entwicklung. Die Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt während der Abriegelungen hat die UNO als «Schattenpandemie» bezeichnet, die das Leben und die Existenzgrundlagen von Frauen und Mädchen bedroht. Für Nigeria weisen aktuelle Untersuchungen jedoch darauf hin, dass diese Krise schon lange schwelt. Nicht weniger als 30% der Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren haben sexuellen Missbrauch erlebt. Mangelnde Koordination zwischen den verschiedenen Stellen, welche die geschlechterdiskriminierenden Normen der Regierung durchsetzen sollten, behindern eine effektive Bekämpfung geschlechterbezogener Gewalt. Die Covid-19-Pandemie hat das bloss noch akzentuiert. Die ForscherInnen Jessica Young und Camron Adib schreiben in einem gemeinsamen Beitrag, dass die Pandemie zu einer Verlagerung von Prioritäten und Ressourcen geführt und eine Welle von Berichten über geschlechtsspezifische Gewalt ausgelöst habe; dies nachdem die Regierung Lockdowns über Lagos – den bevölkerungsreichsten Wirtschaftsraum Afrikas –, den Hauptstadtbezirk und den Bundesstaat Ogun verhängt hatte.  

Aus den Daten der beiden AutorInnen zeigte sich, dass die Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt nach der Verfügung des Lockdowns Ende März in 23 von 36 nigerianischen Bundesstaaten um 149% angestiegen sind. Während in den drei Bundesstaaten Federal Capital Territory, Lagos und Ogun die Zahl der Fälle von 60 im März auf 238 im April anstieg, was einem Anstieg von 297% entspricht, betrug der Anstieg in den Bundesstaaten Benue, Ebonyi und Cross River nur 53%. Dort hatten die jeweiligen Kommunalverwaltungen weniger strikte Sperren verfügt.  

Schwieriger Zugang zur Justiz für Opfer

Darüber hinaus hatte der Lockdown die Schliessung von Notunterkünften zur Folge, was den  Zugang zu lebensrettenden Diensten aber auch zur Justiz massiv erschwert;  also just in einer Zeit als diese am dringendsten benötigt wurden. Generell ist zu beobachten, dass der  Zugang zur Justiz, zu Rechtsschutz und Wiedergutmachung für Opfer immer schwieriger wird. Untersuchungen aus früheren Gesundheitskrisen wie der Ebolakrise in Westafrika haben gezeigt, dass der Verlust der Lebensgrundlagen darüber hinaus die Gefahr birgt, dass Frauen in die Prostitution gezwungen werden. Weil in Nigeria über 80% der erwerbstätigen Frauen im informellen Sektor mit wenig oder gar keinem sozialen Schutz und Sicherheitsnetz beschäftigt sind, ist diese Gefahr während der Coronakrise speziell ausgeprägt.  

In Nigeria sind zudem 18 Millionen Schülerinnen von Schulschliessungen betroffen. Die Schliessung der Schulen setzt heranwachsende Mädchen auch einem erhöhten Risiko von Kinderheirat und Teenagerschwangerschaften aus. Frühe Eheschliessungen sind an sich bereits weit verbreitet, denn 44% der Mädchen heiraten in Nigeria bevor sie 18jährig sind. In Nordnigeria, wo die Tradition der Bildung der Mädchen zusätzlich Steine in den Weg legt, haben arme Familien ihre Töchter während der Pandemie gezwungen zu heiraten, um entsprechende Brautgelder und Geschenke zu erhalten. Schon vor Covid-19 hatte Nigeria weltweit die dritthöchste absolute Zahl von Kinderbräuten; dieses Problem droht sich noch weiter zu verschärfen.  

Hindernisse beseitigen, Bedürfnisse abdecken

Die Herausforderungen, die das Coronavirus für Frauen darstellt, erfordert Engagement und Vertrauen. Die Bildung muss sich auf ganzheitlichere Massnahmen stützen, die über den Zugang zur Bildung hinausgehen und auch andere Hindernisse angehen, denen Mädchen und junge Frauen beim Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen begegnen. Hierfür muss die nigerianische Regierung für die Zeit nach der Pandemie strategische Pläne entwickeln. Die Abriegelungen haben gezeigt, dass die Regierung landesweit in die Computerinfrastruktur der Schulen investieren muss, um den Unterricht in Krisenzeiten zu garantieren; es braucht Pläne für ein Krisenmanagement und die Bereitstellung der dafür nötigen Gelder. Ministerien und Agenturen sollten nach Geschlechtern getrennte Daten erheben, um zu erfahren, wie die Schülerinnen und Schüler von den Schulschliessungen betroffen wurden. In allen 777 Bezirken Nigerias soll den Opfern von sexuellem Missbrauch Gerechtigkeit widerfahren; dafür müssen die auf Genderfragen spezialisierten Abteilungen der Behörden ausgebaut werden.

In der Nach-Coronazeit muss die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen gefördert werden, denn es sind die Frauen, die das Leben ihrer Familien und der Haushalte organisieren. Lobenswerte Regierungsprogramme zur Finanzierung der Händler- und Bauern müssen mit geschlechtsspezifischen Projekten für Mädchen und Frauen gestärkt werden. In einer Welt, die von Covid-19 hart getroffen worden ist, sind konkrete Politiken gegen die tödlichen Auswirkungen des Virus auf die Wirtschaft und die Frauen dringend notwendig.