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COP22: Überraschende Wende am Klimagipfel

21.11.2016, Klimagerechtigkeit

48 der ärmsten Länder wollen bis 2050 vollständig auf erneuerbare Energien setzen. Damit steigt der Druck auf die reichen Länder, mit der versprochenen finanziellen Unterstützung ernst zu machen.

COP22: Überraschende Wende am Klimagipfel

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Nicht die US-Wahlen gaben bei den Klimaverhandlungen in Marrakesch (COP22) am meisten zu reden. Es war die gemeinsame Erklärung von 48 der ärmsten und am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder: Sie kündigten an, bis spätestens 2050 ihre Energieversorgung zu 100 Prozent auf erneuerbare Quellen umzustellen. Das kommt einer Ohrfeige für wohlhabende Staaten wie der Schweiz gleich, welche die Umsetzung des Pariser Klimaübereinkommens nur zögerlich angehen.

Die erste Klimakonferenz nach Inkrafttreten des Pariser Abkommens stand im Zeichen von dessen Umsetzung. Bis 2018 muss einerseits das sogenannte Regelwerk verhandelt werden. Es beschreibt, wie die Staatengemeinschaft den Klimawandel möglichst rasch bremsen will. Andererseits muss bis dann gewährleistet werden, dass den am stärksten betroffenen Bevölkerungen die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um sich gegen die voranschreitenden Auswirkungen des Klimawandels zu wappnen. Die wohlhabenden Staaten haben sich in Paris verpflichtet, bis 2020 mindestens 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr dafür einzusetzen.

Paukenschlag der Ärmsten

Am letzten Tag der Verhandlungen kündigten die 48 der ärmsten und verwundbarsten Länder überraschend an, ihre nationalen Energieversorgungen in den kommenden 15 bis 35 Jahren vollständig auf erneuerbare Energiequellen umzustellen. Die im «Climate Vulnerable Forum» organisierten Staaten haben die Zeichen der Zeit erkannt, denn der Zubau von Wind- und Solarkraftwerken überstieg bereits im vergangenen Jahr jenen von Kohlekraftwerken. Vor allem aber stufen diese Länder Klimaschutz nicht als kostspieliges Hemmnis ein, sie sehen darin vielmehr eine Chance, ihre Entwicklung und die angestrebte Nachhaltigkeit zu beschleunigen.
Spätestens jetzt muss ein Ruck durch den Kreis der etablierten, sich selber stets als «Klimapioniere» feiernden Industrieländer gehen. Bis anhin hatten diese «den Entwicklungsländern» stets vorgeworfen, für den Kampf gegen die Folgen des einsetzenden Klimawandels zwar finanzielle Unterstützung zu fordern, sich gleichzeitig aber davor zu drücken, kohlestofffreie Entwicklungspfade in Betracht zu ziehen.

Die Konstellation im globalen Klimapoker hat sich mit diesem Paukenschlag verändert: Wenn die am wenigsten entwickelten und für den Investitionsmarkt minder attraktiven Länder sich zu ehrgeizigeren Zielen bekennen als das Gros der Industrieländer, dann kommen letztere unter Zugzwang. Denn nur die reichen Länder besitzen das Know-how, das Kapital und die Innovationskraft, um die nötige Transformation der Energiepolitik voranzutreiben. Das Mantra, dass die Entwicklungsländer zuerst eine ambitionierte Klimapolitik vorlegen müssten, bevor sie dafür Gelder von den Industrieländern fordern könnten, hat ausgedient.

Nicht die schwer einzuordnende Präsidentenwahl in den USA hat das Fundament der globalen Klima-Architektur erschüttert. Sondern, erfreulicherweise, das Vorangehen derer, die den Klimawandel nicht nur wortreich debattieren, sondern dessen Folgen bereits am eigenen Leib spüren. Ausreden der Industrieländer gelten jetzt nicht mehr. An der nächsten Klimakonferenz, die in einem Jahr unter der Schirmherrschaft von Fidschi in Bonn stattfindet, müssen sie endlich aufzeigen, wie sie die versprochenen Unterstützungsgelder bereitstellen werden.

Auch Schweiz kann sich nicht mehr verstecken

Das gilt auch für die Schweiz, die im internationalen Klimapoker eine zwiespältige Rolle spielt: Zwar hat Bundesrätin Doris Leuthard recht, wenn sie die schleppende Umsetzung der Pariser Beschlüsse beklagt. Gleichzeitig gehört gerade unser Land in der Finanzierungsfrage zu den Bremserinnen. In der Diskussion, woher die bis 2020 auf rund 1 Milliarde Franken pro Jahr geschätzten Beiträge der Schweiz ans internationale Klimaregime kommen sollen, setzt der Bundesrat auf den Privatsektor. Die von den OECD-Staaten vorgelegte «100 Billion Roadmap» kommt aber zum Schluss, dass gerade für dringende Anpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern kaum private Investitionen zu mobilisieren sind. Die Prognose der OECD rechnet damit, dass bis 2020 nicht einmal die Hälfte der versprochenen Gelder zusammenkommt.
Die globale Transition hin zu einer kohlestofffreien Welt bis Mitte dieses Jahrhunderts kann nur mit gemeinsamen Anstrengungen aller Länder und Akteure bewerkstelligt werden. Wenn die Ärmsten mit zielführenden Rezepten vorangehen, sollte die reiche Schweiz nicht abseits stehen. Vor allem aber darf sie sich nicht länger um Ihre Verantwortung drücken.