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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Artikel, Global
21.03.2022, Internationale Zusammenarbeit
Letzten August übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht. Hunger, Kälte und Verzweiflung dominieren. Aber auch Widerstand und leise Hoffnung gibt es, wie eine in Kabul lebende Afghanin und Mitarbeiterin einer internationalen NGO erzählt.
Deprimiert, verzweifelt, kraftlos. So fühlte ich mich in der schlimmsten Phase, den ersten zwei Monaten nach der Machtübernahme durch die Taliban. Hoffnungsvoll bin ich zwar immer noch nicht. Aber ich versuche mich zu motivieren und mir guten Mut zuzureden. Und ja, ich habe wieder mehr Energie als im Herbst. Damals waren da nur Schock, Wut, Chaos und Angst. Eine grosse Angst vor dem, was kommen könnte.
Die Machtübernahme der Taliban kam nicht ganz überraschend. Wir wussten, dass es passieren kann. Und wir Frauen waren uns in den letzten Jahren stets bewusst gewesen, dass wir unsere Freiheiten nicht als selbstverständlich betrachten dürfen, dass unsere Rechte jederzeit wieder beschnitten werden könnten. Wohl deswegen gingen die meisten Mädchen mit besonders viel Elan und Motivation zur Schule, und der Grossteil der Frauen leidenschaftlich gerne arbeiten. Dann, als die Taliban im August wieder kamen, wurden besonders den Frauen auf einen Schlag alle Perspektiven genommen.
Am Tag, als alles wieder anfing, brachte ich morgens meine Nichten in den Kindergarten. Ich lebe – wie die meisten Menschen hier in Kabul – zusammen mit einer grossen Familie in einem Haus: mit meiner Mutter, zwei Brüdern, einer Schwägerin, drei Nichten und einem Neffen. Die Mädchen sind zwischen fünf und sieben Jahre alt. Ich begleitete sie also zum Kindergarten, der sich etwa zehn Minuten von unserem Zuhause in Downtown Kabul befindet. In den Strassen herrschte eine seltsame Stimmung, noch ahnte ich aber nicht, was geschehen würde.
Auf dem Rückweg wollte ich Geld abheben, das ich meiner Mutter bringen sollte, die mit einer schweren Covid-Infektion im Spital lag. Doch der Automat spuckte nichts aus. Also ging ich nach Hause. Und da hörte ich die Nachricht, dass sie die Aussenbezirke von Kabul erreicht hatten, dass sie also kamen und die Gefangenen freigelassen hatten. Das löste Angst und Panik unter der Bevölkerung aus, was schnell zu einem riesigen Verkehrschaos führte. Ich schaffte es noch gerade, meine Nichten vom Kindergarten abholen zu lassen. Zum Glück. Eine Stimmung der Angst hing auf einmal über der Stadt. Wir wussten ja aus der Vergangenheit, was wir von den Taliban zu erwarten hatten.
Während des ersten Monats sassen wir nur zuhause, weinten oft oder diskutierten, wer wie und wohin flüchten könnte. Die Evakuationen verliefen chaotisch, und auf einen Schlag verloren sehr, sehr viele Menschen ihre Arbeit: ehemalige Regierungsangestellte und manche NGO-Mitarbeitende, von denen es in Kabul zahlreiche hatte, zudem ein Grossteil der Lehrerinnen, da Mädchen ab der siebten Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen, also braucht es auch die Lehrerinnen nicht mehr. Niemand fühlte sich sicher, wir wussten nicht einmal, ob und in welcher Kleidung wir auf die Strasse gehen durften.
Einen Monat nach der Machtübernahme hatte ich Geburtstag, ich wurde 41. Da gingen wir zum allerersten Mal wieder raus. Ein seltsames Gefühl – irgendwie normal und doch war nichts mehr wie früher. Praktisch alle in meiner Familie haben ihren Job verloren. Eine meiner Cousinen arbeitet noch als Ärztin, aber sie muss das nun in dieser konservativen Kleidung tun, und man hat ihr einen Drittel des Gehalts gekürzt. Ich finanziere einen Grossteil der Familie. Und wir wissen nicht, wie lange das noch reicht. Die Not in Afghanistan wächst täglich, Millionen von Menschen fehlt es an Essen und Heizmaterial für die nächsten Tage.
Als Frau kann ich mich in der Öffentlichkeit mit Kopfbedeckung bewegen, wie ich sie schon früher getragen habe. Ich begleite meine Nichten wieder in den Kindergarten und gehe auch mal mit ihnen auf den Spielplatz. Und dennoch: Das Leben ist kein Leben mehr, das Leben ist ein Kampf geworden. Wir haben keine Perspektiven, kämpfen ums Überleben. Vor wenigen Wochen wurde eine junge Frau erschossen, bei einem Checkpoint, einfach so, von hinten, ohne Grund. Das ist verstörend und verunsichert einen extrem. Warum tun sie das? Wen trifft es als Nächstes?
Schon zweimal habe ich auf der Strasse erlebt, wie verkrachte Talibangruppen aufeinander losgingen und zu schiessen begannen. Man hört von Hinrichtungen, nur weil jemand auf Facebook einen falschen Kommentar geschrieben hat. Da stellen wir uns schon die Frage, warum Länder wie Norwegen oder die Schweiz die Taliban Anfang dieses Jahres zu Gesprächen einluden. Einige fühlen sich von der Welt im Stich gelassen. Warum sieht die Welt nicht, dass es sich um Terroristen handelt? Was wissen die Menschen da draussen überhaupt von unseren Nöten? Ich verurteile niemanden. Aber ich merke, dass Aussenstehende sich kein Bild machen können von unserer Situation. Läden und Restaurants schliessen, weil sie nicht mehr rentieren, die Not ist riesig, die Aussicht mies. Alle haben zu leiden. Und wir wissen nicht, ob und wann sich dies bessern wird.
Ich hätte zwar die Chance gehabt, das Land zu verlassen, ganz am Anfang, weil ich einen kanadischen Pass habe. Das kam für mich aber nicht in Frage, denn ich wollte meine Familie nicht im Stich lassen; das hätte ich nicht überlebt. Ich verstehe aber alle, die geflüchtet sind. Auch wir überlegen, ob wir vielleicht doch noch ausreisen können, irgendwie, in die Türkei zum Beispiel. Aber nur als ganze Familie. Wir lassen niemanden hier zurück!
Genau jetzt, da ich hier erzähle, würde ich eigentlich Englisch unterrichten. Ich habe nämlich entschieden, interessierte Frauen der Verwandtschaft online zu unterrichten. Eine Cousine schaltet sich dafür aus dem Iran zu und eine aus London, wo sie mit ihrer Familie hin geflüchtet ist, und einige andere weibliche Familienangehörige aus Kabul nehmen ebenfalls teil. Sie alle wollen Englisch lernen, nicht passiv sein. Es gibt viele Frauen in Afghanistan, die sich irgendwie engagieren und sich so gegen das Regime wehren. Wir geben nicht auf.
Natürlich hoffen wir, dass sie uns Frauen dank des internationalen Drucks nicht ganz alles wegnehmen, dass die Unis und Schulen im März überall wieder aufgehen, wie sie es versprochen haben. Ich bin aber nicht sehr optimistisch. Mich motivieren vor allem meine Nichten. Jeden Morgen, wenn ich sie sehe, versuche ich alles, um diese Mädchen zum Lächeln zu bringen. Wenn ich sehe, dass sie glücklich sind, macht mich das auch glücklich. Das gibt mir viel Kraft. Und: In der Familie reden und diskutieren wir dauernd über das, was hier läuft. Das tut gut. Wir vertrauen und stützen einander. Und das wird niemand und nichts zerstören können.
Bemerkung: Der Name der Erzählerin wird hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt. Der Text wurde im Februar 2022 verfasst.
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