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Tomaten mit bitterem Beigeschmack

22.03.2020, Handel und Investitionen

Cofco Tunhe, weltweit zweitgrösster Hersteller von Tomatenkonserven, produziert in Xinjiang, wo China Millionen von Uiguren unterdrückt. Die Cofco-Gruppe hat ihr internationales Handelszentrum in Genf eingerichtet. Die Schweiz muss handeln.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Tomaten mit bitterem Beigeschmack

Menschen wie Idrissa Diassy (24) aus Senegal sind Opfer der globalisierten Tomatenproduktion. Er arbeitet fernab der Heimat bei Foggia in Süditalien.
© Alessandro Bianchi / Reuters

Im November 2019 richteten die sogenannten China Cables, geheime chinesische Dokumente über die Unterdrückung der Uiguren in der westchinesischen Provinz Xinjiang, ein Schlaglicht auf die Menschenrechtslage in Ost-Turkestan. Eine bis drei Millionen Uiguren werden dort in Lagern schikaniert, indoktriniert und zu Zwangsarbeit verpflichtet. Recherchen zeigen, dass der chinesische Staatskonzern Cofco Tunhe sein internationales Handelszentrum 2017 unter dem Namen Cofco international in Genf eingerichtet hat.

Seine in Buchform[1] vorgelegte und später auch verfilmte[2] Reportage L'Empire de l'or rouge sei die «absurde Geschichte unserer globalisierten Welt», meint Autor Jean-Baptiste Malet, der für seine 2017 veröffentlichte Recherche zwei Jahre lang unterwegs war. Sie zeigt, wie die Weltproduktion von Tomatensauce von Italien nach China, genauer gesagt nach Xinjiang, verlagert wurde und die Firma Cofco Tunhe zur zweitgrößten Tomatenverarbeiterin der Welt wurde. Das chinesische Staatsunternehmen betreibt in Westchina 5.000 Hektar Tomatenfelder und 11 Verarbeitungsbetriebe.

Den Anstoss zu seiner Recherche erhielt der provenzalische Journalist, als Le Cabanon, eine beliebte französische Tomatensauce-Marke vom chinesischen Investor Liu Yi, bekannt als The General, gekauft wurde. Warum soll ein Land, in dem kaum Tomatensauce gegessen wird, mit der Provence oder Italien konkurrieren, fragte er sich.

Cofco Tunhe beliefert die Weltmarken

Malets Recherchen haben Erstaunliches zutage gefördert. In den frühen 2000er Jahren standen Leute aus der Bingtuan, einer 1954 auf Befehl Maos gegründeten militärisch-industriellen Organisation aus ehemaligen Armeekadern, an der Spitze der börsenkotierten chinesischen Chalkis-Gruppe, die vor allem Tomatenprodukte herstellt. Die Mission dieser mysteriösen Organisation besteht u.a. darin, den Widerstand des uigurischen Volkes zu brechen. Chalkis kontrolliert in der Region Xinjiang grosse Ländereien und Ressourcen und kann dort auf sehr billige Arbeitskräfte zählen. Rund ein Drittel der Ernte wird immer noch von Hand eingebracht, wobei die Arbeiter pro Kilo gepflückter Tomaten 1 Eurocent verdienen. Oft begleiten Kinder ihre Eltern auf die Felder und arbeiten mit.  

Der Erfolg von Chalkis ist so überwältigend, dass China innerhalb von zwanzig Jahren zu einer Tomaten-Supermacht geworden ist und Konzentrat herstellt, das heute in mehr als 130 Ländern, darunter auch in Italien, verkauft wird. Viele Saucen, Ketchup und andere Tomatenprodukte, die in Europa und den USA konsumiert werden, enthalten Zutaten aus einer der 23 Chalkis-Fabriken. Noch bevor die Welt von den uigurischen Lagern erfuhr, hatte Yu Tianchi, der Vizepräsident von Cocfo Tunhe, in die Kamera gesagt: «Alle internationalen Marken vertrauen uns und kaufen unser Tomatenmark: Heinz, Kraft, Unilever, Nestlé. Alleine Heinz verkauft jährlich 650 Millionen Flaschen Ketchup in mehr als 150 Ländern. Es ist kaum übertrieben, dieses Unternehmen als Konzentrat der Geschichte des Kapitalismus zu bezeichnen. Heinz war 2013 vom auf 73 Milliarden Dollar Vermögen geschätzten Investor Warren Buffet gekauft und mit dem Nahrungsmittelkonzern Kraft zusammengelegt worden. Die grösste Fabrik Nordamerikas im Süden Kanadas wurde geschlossen, 7400 Arbeitsplätze oder ein Viertel der gesamten Belegschaft gestrichen.

China als Profiteur des globalen Freihandels

Eine wichtige Rolle beim Aufstieg Chinas zur Tomaten-Grossmacht spielte Armando Gandolfi, ein Händler aus Parma, der italienische Technologie nach China verkaufte und dort die Produktion organisierte. Die Chinesen lernen schnell und begannen bald, Tomatensauce in Eigenregie herzustellen, und dies zu unschlagbaren Preisen. Geliefert wird sie u.a. in die süditalienische Hafenstadt Salerno, wo das Konzentrat neu verpackt und in die ganze Welt verschifft wird.

Heute dominieren die Vereinigten Staaten, Italien und China den globalen Tomatenmarkt und liefern sich einen heftigen Konkurrenzkampf. Mit ihrer zu einem grossen Teil in Xinjiang hergestellten Sauce haben die Chinesen mittlerweile die Italiener überholt, weil sie diese zu unschlagbarem Preis nach Afrika exportieren. In Ghana ist die chinesische Tomatensauce so billig, dass sich lokal angebaute Tomaten nicht mehr verkaufen lassen. In 15 Jahren sind die Importe um das 30-fache gestiegen und die letzte nationale Tomatenverarbeitungsanlage wurde 2012 geschlossen. General Liu meint pathetisch: «Xi Jinping hat die neuen Seidenstrassen ins Leben gerufen. Xinjiang steht an deren Anfang, Ghana am Ende.»

Malets Film illustriert ein nur allzu bekanntes Phänomen. Seit der Unabhängigkeit haben Ghanas Bauern Tomaten angebaut, die in lokalen Fabriken verarbeitet wurden, geschützt durch Zollschranken. Seit Mitte der 1990er Jahre und der Einführung des Freihandels wurde das Land von billigen Importen überschwemmt und die lokalen Fabriken mussten schliessen. Die Bauern sind gezwungen, sich andere Arbeit zu suchen, die es im Land kaum gibt. Sie versuchen ihr Glück in Europa, wo jene, die es nach Italien schaffen, sich nicht selten – zynische Ironie des Schicksals – als Tomatenpflücker wiederfinden. Alleine in der Region Foggia in Apulien arbeiten 30 000 Migranten unter sklavenähnlichen Bedingungen als Erntehelfer.

Seit den Dreharbeiten zu diesem ausgezeichneten Dokumentarfilm hat die ohnehin schon ernste Menschenrechtssituation in Xinjiang eine dramatische Wende genommen. Im August 2018 bestätigte der UN-Ausschuss gegen Rassendiskriminierung, was NGOs seit einiger Zeit anprangerten: China hat sogenannte Umerziehungslager errichtet, in denen mindestens eine Million Uiguren und andere muslimische Minderheiten festgehalten werden. Zuerst leugnete dies Beijing, räumte jedoch schliesslich unter der erdrückenden Beweislast die Existenz von «Berufsbildungslagern» ein. Eine Verteidigungslinie, die mit der Veröffentlichung der China Cables als peinliche Rechtfertigung entlarvt wurde. Oder wie Dolkun Isa, der Präsident des uigurischen Weltkongresses, gegenüber «global» festhielt: «In diesen Lagern und in Fabriken ausserhalb dieser Lager gibt es Zwangsarbeit.» Eine Tatsache, die auch der deutsche Wissenschafter Adrian Zens dokumentiert hat. Als Sektoren, in denen Zwangsarbeit speziell verbreitet ist, gelten die Tomaten- und die Baumwollproduktion.

Cofco International, ein Schweizer Unternehmen

Die Cofco-Gruppe, die Muttergesellschaft von Cofco Tunhe, hat ihr internationales Handelszentrum in Genf unter dem Namen Cofco International eingerichtet. Im Mai 2017 wurde im Beisein der damaligen Bundespräsidentin Doris Leuthard vom Genfer Staatsrat Pierre Maudet in Beijing eine Absichtserklärung mit der Unternehmensleitung unterzeichnet. Sie sieht vor, dass The State of Geneva Cofco International in Fragen der Unternehmensbesteuerung hilfreich zur Seite steht.    

Wie Public Eye in ihrem im Juni 2019 veröffentlichten Bericht Agricultural Commodity Traders in Switzerland, Benefitting from Misery? aufzeigt, ist Cofco heute einer der grössten Agrarhändler der Welt. Die Schweiz trägt daher eine besondere Verantwortung in dieser Angelegenheit: Stellt sie sicher, dass in den Cofco-Fabriken und auf den Tomatenfeldern keine Zwangsarbeit praktiziert wird? Alliance Sud, die Gesellschaft für bedrohte Völker und Public Eye, die sich im Rahmen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit China zur China-Plattform zusammengeschlossen hatten, haben die Bundes- und die Genfer Kantonsbehörden aufgefordert, von Cofco die Einhaltung der Sorgfaltspflicht in der gesamten Produktionskette und entsprechende Transparenz zu fordern. Eine von Nationalrat Fabian Molina eingereichte Motion hat der Bundesrat am 20. Februar ausweichend beantwortet.

Am Ende des Films reibt sich General Liu die Hände: «Ich glaube, in fünf bis sechs Jahren werden auch in China endlich Tomatenprodukte auf den Markt kommen, denn immer mehr Menschen essen bei McDonald's. Und wenn erst einmal in China sieben bis acht Kilo Tomaten pro Jahr gegessen werden, werden 10 Milliarden Kilo Tomaten benötigt. Es gibt noch ein sehr grosses Entwicklungspotential für diese Industrie!»

Und wie lange wird es noch dauern, bis wir ganz sicher sein können, dass Tomatensauce chinesischer Provenienz auf unseren Tellern nicht einen ganz bitteren Nebengeschmack hat?

 

[1] L’Empire de l'or rouge : Enquête mondiale sur la tomate d'industrie, Jean-Pierre Malet, Fayet Verlag, 2017

[2] L’Empire de l’or rouge, Film von Jean-Pierre Malet und Xavier Deleu, DVD (Little Big Story), 2019