Meinung

Strassburg ruft die Schweiz aus dem Winterschlaf

11.04.2024, Klimagerechtigkeit

Nach der Verabschiedung eines unfassbar schwachen CO2-Gesetzes für die Jahre 2025-30 in der letzten Frühlingssession ist das Urteil im Fall der Klimaseniorinnen gegen die Schweiz ein Weckruf für Bundesrat und Parlament. Die Schweizer Klimapolitik braucht dringend einen Schub.

Delia Berner
Delia Berner

Expertin für internationale Klimapolitik

Strassburg ruft die Schweiz aus dem Winterschlaf

Grosses Medieninteresse anlässlich der Urteilsverkündung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
in Strassburg über die Klage der Klimaseniorinnen Schweiz. © Miriam Künzli / Greenpeace

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 9. April gegen die Schweiz ist historisch, indem es Klimaschutz als menschenrechtlichen Anspruch anerkennt. Und es kommt für die Schweiz zum richtigen Zeitpunkt. Denn das Parlament hat gerade im März ein Gesetz zur Reduktion der CO2-Emissionen verabschiedet, das seinen Namen eigentlich nicht verdient. Nun hat der EGMR die Schweiz gerügt, dass ihre Klimapolitik ungenügend ist, um die Menschen vor den negativen Auswirkungen der Klimakrise zu schützen, und dabei wichtige Grundsatzentscheide in Bezug auf die Anforderungen an die Klimapolitik der Europarats-Mitgliedstaaten gefällt. Die Staaten – inklusive die Schweiz – müssen die benötigten Massnahmen ergreifen, um ihre Treibhausgas-Emissionen substanziell und fortlaufend zu reduzieren, sodass sie bis in drei Jahrzehnten Netto Null erreichen. Der Zeitplan muss dabei das verbleibende «Klimabudget» berücksichtigen. Das heisst, sie müssen quantifizieren, wie viele Emissionen sie insgesamt noch ausstossen dürfen, um ihren Anteil zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1.5 Grad zu leisten, und müssen sich ihr jährliches Budget der noch erlaubten Emissionen entsprechend berechnen.

Das Gericht ist in seiner Argumentation explizit den wissenschaftlichen Fakten aus den bereits zahlreichen Berichten des Weltklimarats gefolgt – die eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse könne das Gericht nicht ignorieren, steht in der Urteilsbegründung mehrfach.

Die Schweiz muss das CO2-Budget einhalten

Die Schweiz ist rechtlich verpflichtet, das Urteil umzusetzen und dem Ministerkomitee des Europarats darüber Rechenschaft abzulegen. Konkret fordert das Gericht unter anderem, dass die Schweiz ihre Klimaziele anhand eines CO2-Budgets errechnet. Das verbleibende globale CO2-Budget, das es mit «genügender» Wahrscheinlichkeit erlaubt, das 1.5-Grad-Ziel zu erreichen, wird mit wissenschaftlichen Modellen vom Weltklimarat regelmässig berechnet. Die Schweiz hat also höchstens etwas Interpretationsspielraum, welchen Anteil davon sie für sich beansprucht. So oder so wird aber die geforderte Berechnung voraussichtlich dazu führen, dass sie ihre eigenen Klimaziele verschärfen muss. Das Urteil verpflichtet sie auch dazu, die gesetzten Ziele zu erreichen. Welche Massnahmen sie dafür ergreift, liegt im Handlungsspielraum der Schweiz.
Damit verschärft sich der dringende Handlungsdruck für die Schweiz zusätzlich. Es ist Zeit, dass Bundesrat und Parlament aufwachen und sich ihrer Verantwortung stellen. Die Schweiz muss endlich ihren fairen Anteil zur Umsetzung des Pariser Abkommens leisten, im Inland wie auch über die internationale Klimafinanzierung im Globalen Süden.