Reportage

Rooms with a view

06.12.2023, Finanzen und Steuern

In New York hat im November eine grosse Mehrheit der UNO-Staaten einer UNO-Rahmenkonvention für Steuern zugestimmt. Unser Experte war im Vorfeld vor Ort – eine Reportage.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Rooms with a view

Intensive kanadische Waldbrände hüllen die George-Washington-Brücke in einen Dunst, der den Himmel gelblich-grau färbt.

© Seth Wenig / AP Photo / Keystone

Am Flughafen Zürich hatte ich mir noch Gummistiefel gekauft. Einen Tag bevor ich in New York landete, stand die Stadt nämlich unter Wasser. Ein starker Herbstregen hatte weite Teile der US-Metropole am Hudson überschwemmt. Ein Flughafen musste geschlossen werden, Subway-Tunnel waren vollgelaufen. Rund um die Welt waren in den News Bilder von Menschen zu sehen, die auf Verkehrsampeln sassen und in reissende Wasserströme unter ihnen starrten, in denen Restaurantmobiliar tanzte und Autos trieben. Aus der Ferne hätte man meinen können, New York sei von der Sintflut erfasst worden.

Der Globale Süden in der Metropole des Nordens

Einen Tag später sass ich mit meinen Kolleg:innen der «Global Alliance for Tax Justice» auf der Terrasse eines mexikanischen Restaurants in Midtown Manhattan, unweit des Hauptsitzes der Vereinten Nationen. Im T-Shirt – für anfangs Oktober war es beängstigend mild. Morgen würden wir dort gemeinsam den Verhandlungen des zweiten Komitees der UNO-Generalversammlung beiwohnen, wo die Vertreter:innen von 193 Nationen gerade über eine neue Steuerkonvention berieten. Nicht einmal mehr Pfützen waren in diesem Teil der Stadt zu sehen. Unsere indische Kollegin hatte zuvor das lokale Wetterereignis mit globaler Ausstrahlung in einer E-Mail eingeordnet: «In my part of the world we would call it a ‘light monsoon shower’.» Offenbar sieht die durch das Netz vermittelte Welt manchmal noch immer schlechter aus, als sie tatsächlich ist – jedenfalls, wenn es um das Wetter geht.

Aber tatsächlich sind die Abwassersysteme in New York teilweise so schlecht, dass sie schon relativ geringe Mengen ausserordentlichen Regens nicht mehr fassen können. Das ist vor allem jenseits Manhattans der Fall, der bestentwickelten und reichsten Zone der Stadt. Sie sei in Midtown den ganzen Tag von Treffen zu Treffen geeilt, völlig unbehelligt vom Wasser, erzählte meine indische Kollegin. So geben Wassersäulen in New York auch den Stand der Ungleichheit zwischen seinen Stadtteilen wieder.

Vor allem auf lange Sicht und relativ unbemerkt von der globalen Newskarawane, ist das Wasser für New York ein grosses Problem. Wegen des Klimawandels ist der Meeresspiegel an der New Yorker Küste seit 1900 um 30 Zentimeter angestiegen. Bis Ende des Jahrhunderts, so die Prognosen, werden weitere 1,5 Meter dazukommen. Starkregen werden wegen den steigenden Temperaturen über dem Atlantik zunehmen. In der «New York Times» stand kürzlich, dass wegen des ansteigenden Meeresspiegels bis Ende des Jahrhunderts 600'000 Einwohner:nnen der Stadt ihren Wohnort räumen müssen. Stellen wir uns vor, ganz Zürich und Genf würden im Meer verschwinden.

Im Kampf gegen das Wasser fehlt das Geld

In den ersten Tagen in New York stand ich dank meines Jetlags schon um sechs Uhr früh auf der Strasse und wanderte für ein paar Stunden kreuz und quer durch die Stadt, bevor unsere Treffen mit den UNO-Vertretungen der verschiedenen Länder begannen. Ich lief durch die alten Stationen der Subways und spazierte an den halbverlassenen Docs in Brooklyn entlang Durch ihre Nähe zum Meer sind die Viertel im Süden der Stadt dem Hochwasser am stärksten ausgesetzt. In Far Rockaway etwa, einem Quartier im Stadtteil Queens, in dem vor allem Arbeiter:innen und die untere Mittelklasse leben, berichtete die «New York Times» von Bewohner:innen, die schon heute dem Wasser weichen und wegziehen. Die brüchige Infrastruktur ist jenseits der glatten und glänzenden Oberfläche in Midtown oder dem Financial District omnipräsent. Es rostet und bröckelt im öffentlichen Raum New Yorks. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier die nötigen Anpassungen an die sich stark verändernden klimatischen Bedingungen rechtzeitig fertig werden, obwohl die Stadt über einen Adaptions-Plan («AdaptNYC») und einen Nachhaltigkeits-Plan (PlaNYC 2030 - A Greener Greater New York) verfügt.

Gerade hat der ehemalige Polizeibeamte und heutige demokratische Bürgermeister Eric Adams in Washington Geld angefordert, um den Migrant:innen aus Mittel- und Südamerika zu helfen, die zurzeit in viel grösserer Zahl nach New York kommen als in den vergangenen Jahren. Nur schon um diesen Menschen genügend würdige Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, fehlen der Stadt die finanziellen Mittel. Adaption in der Klimakrise und Ausgaben für Migration sind also auch in New York zwei der grössten Aufgaben in den nächsten Jahrzehnten. Wobei die «Migrationskrise» auch verantwortungslosen republikanischen Gouverneur:innen in den südlichen US-Staaten geschuldet ist. Sie schicken Neuankommende aus Mexiko teilweise direkt nach New York. Texas verteilte an 42'000 Immigrierende Bustickets nach New York, 15'300 von ihnen sollen mittlerweile angekommen sein. Insgesamt fehlen der Stadt bis ins Jahr 8,3 Milliarden Dollar, nur um ihre laufenden Ausgaben zu decken. Eigentlich absurd, ist sie doch die reichste Stadt der Welt: 340'000 Millionäre, 724 Menschen, die mehr als 100 Millionen besitzen, und 58 Milliardäre leben hier. Gleichzeitig ist auch die Armut gross: 2021 lebten fast ein Fünftel der New Yorker:nnen in Armut und ein Drittel hatte Mühe, existentielle Ausgaben fürs Wohnen, Essen, die Ausbildung der Kinder oder die Krankenversicherung zu decken.

Als ich an einem Morgen mit der Seilbahn von Roosevelt Island zurück nach Midtown fuhr, kam ich mit einem jungen Wall-Street-Informatiker ins Gespräch. Jeden Morgen schwebt er mit seiner Frau und der kleinen Tochter mit der Seilbahn über den East River nach Manhattan zur Arbeit und in den Kindergarten. Er hatte wohl an diese sozialen Verhältnisse gedacht, als er mir erzählte, dass sie – aus bescheidenen Verhältnissen in Queens kommend – mittlerweile ein Apartment auf der ruhigen, aufgeräumten Insel bewohnten. Ein privilegiertes Leben. «Aber von denen da drüben» – und er zeigte auf die Spitzen der Wolkenkratzer Midtowns, die in der Morgensonne glitzerten – «bin ich immer noch sehr weit entfernt.»

Extreme soziale Ungleichheit, hohe Klimarisiken, aber zu wenig Geld für Klimaadaption und angemessene Infrastruktur für Zuwandernde: Im Grunde ist diese Stadt eine Gesellschaft, wie wir sie auch aus Schwellenländern kennen. Der Globale Süden zeigt sich auch in der schillerndsten Metropole des Nordens. Um Ungleichheit und Not unter Armen zu lindern, Klima-Adaptation und -Mitigation voranzutreiben, bräuchte die Stadt dringend mehr Steuereinnahmen. Eine höhere Besteuerung von grossen Vermögen, Unternehmens- und Kapitalgewinnen könnte einiges bringen: 2022 wurden an der Wall Street 28 Billionen Dollar gehandelt. Doch in der Stadtregierung dominieren die Sparfüchse vom «Office of Management and Budget», wie der Politico berichtete.  

Die Orchideen der EU

Meine Kolleg:innen der «Global Alliance for Tax Justice» und ich sind nach New York gekommen, um hier anzusetzen und einer UN-Rahmenkonvention für Steuerpolitik zum Durchbruch zu verhelfen, mit der die OECD als dominierende multilaterale Organisation für die internationale Steuerpolitik abgelöst werden kann (siehe global #90). In einem zehnjährigen Reformzyklus hat es der Club der reichen Länder des Westens trotz einer formellen Einbindung einiger Länder des Südens nicht geschafft, Konzernsteuereinnahmen gerechter zu verteilen. Die UNO könnte hier eine ganz andere Dynamik entfachen. So wanderte ich mit meinen dänischen und neuseeländischen Kolleg:innen eine Woche lang von Ländermission zu Ländermission. Die meisten von ihnen haben sich in einem Halbkreis um den UNO-Hauptsitz am East River niedergelassen. Wir wollen möglichst viele OECD-Mitgliedsländer davon überzeugen, die Forderungen der afrikanischen Staaten für eine Ausarbeitung einer Rahmenkonvention zu unterstützen. Mit letzteren sind unsere Kolleg:innen aus Äthiopien und Indien im Austausch.

In der EU-Mission, von deren Büroräumen aus der Blick aus den Fenstern hinaus und über Topforchideen auf den Simsen hinweg weit die Third Avenue bis zum «One World Trace Center» hinuntergeht, war allerdings nicht viel zu machen. «I’m afraid, you won’t like what I am going to say now, but…” Einer ihrer französischen Vertreter:innen argumentiert mit «Doppelspurigkeiten» zu den OECD-Steuerprozessen und mangelndem Wissen und Ressourcen in der Steuerpolitik bei der UNO. Das hörten wir tatsächlich nicht gerne, denn erstens wäre eine UNO-Steuerkonvention vor allem aus der Sicht von Produktionsländern multinationaler Konzerne im Globalen Süden etwas völlig anderes als das «Inclusive Framework» bei der OECD. Dort dürfen sie zwar mittlerweile mit am Tisch sitzen, es dominieren aber immer noch die reichen Staaten des Nordens. In der UNO aber sind die Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd viel ausgeglichener. Was die Ressourcen anbelangt, läge es am politischen Willen der reichen Länder, die UNO entsprechend auszustatten. Solche «Argumente» sind also reine Diskurskulissen. Trotzdem argumentieren die meisten OECD-Staaten so. Sie verschleiern so ihre materiellen Interessen. Denn in einem neuen UNO-Steuersystem, mit dem die Steuereinnahmen aus den Gewinnen multinationaler Konzerne weltweit gerecht verteilt würden, verlören die alten Konzernzentralen des Nordens notgedrungen.

Auch globale Transparenz im Offshoresystem für private Vermögen würde das Geschäft für die traditionellen Finanzplätze des Nordens erschweren. Das gilt ganz besonders für die Schweiz, der man in New York nachsagt, den ganzen UNO-Prozess am liebsten im East River ertränken zu wollen. Doch es gibt auch unter den OECD-Ländern Ausnahmen: Für Hochsteuerländer wie Dänemark oder Norwegen könnten mit der UNO im Rücken auch Mehreinnahmen drin liegen. So war denn auch das Gespräch mit dem dänischen Repräsentanten im formidablen Sushi-Restaurant ziemlich «hygge» – das dänische Konzept für Gemütlichkeit und Geborgenheit.

Mehr «Hygge» für die Welt

Am letzten Tag meiner Reise durch die UNO sass ich auf einem breiten, weichen Sessel in einem unterkühlten Foyer im Hauptquartier und schrieb UNO-Postkarten aus den 1980ern. Katar hatte hier eingerichtet: Schaukästen mit goldenen Oasenmodellen drin säumten die Wände. Eine raumhohe Fensterfront öffnete den Blick auf den East River und die noch immer stetig wachsenden Hochhäuser an einem Brooklyner Ufer. Der verschnörkelte Spannteppich verschluckte jedes Geräusch, neben mir dösten Verhandler:innen in den Sesseln. «Die Welt steht mitten in Katastrophen und Kriegen, aber hier bei der UNO könnte immerhin die internationale Steuerpolitik bald etwas gerechter werden», schrieb ich auf eine Postkarte. Vielleicht erkennen die Mächtigen des Nordens ja doch noch die Zeichen der Zeit, überwinden ihre Liebe zum Status quo und beginnen, Macht und Steuereinnahmen gerechter zu teilen. Etwas mehr «Hygge» könnte die Welt gut gebrauchen.