Internationale Steuerpolitik

«Das System ist gegen uns»

29.11.2024, Finanzen und Steuern

Everlyn Muendo verfolgt im Auftrag des Tax Justice Network Africa (TJNA) die Verhandlungen für eine UNO-Steuerkonvention in New York. Im Interview analysiert sie die aktuellen Entwicklungen und erklärt, warum es für den Globalen Süden in der internationalen Steuerpolitik keine Alternative mehr zur UNO gibt.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

«Das System ist gegen uns»

Steuersubstrat fliesst gen Norden ab, die Lebenshaltungskosten steigen: Heftige Proteste gegen ungerechte finanzpolitische Reformen erschüttern Kenia seit Juni. © Keystone / AFP / Kabir Dhanji

 

«global»: Everlyn Muendo, Sie haben an den diesjährigen Verhandlungssitzungen zur UNO-Steuerkonvention teilgenommen. Was ist ihr Gesamteindruck?

Es gab eine sehr scharfe Kluft zwischen Globalem Süden und Norden. Die steuerpolitischen Interessensgegensätze zwischen den beiden Lagern wurden sehr deutlich.

Die Transparenz der Verhandlungen ist im Vergleich mit jenen bei der OECD bereits ein grosser Fortschritt. Mit welchen Standpunkten des Nordens haben die Länder des Südens die grössten Schwierigkeiten?

Erstens ist der Globale Norden der Meinung, dass die UN-Rahmenkonvention die bereits bestehenden OECD-Beschlüsse lediglich ergänzen soll und diese nicht – wie sie es nennen – duplizieren sollte. Zweitens scheint der Norden die Rolle der UNO auf das reine «Capacity Building» beschränken zu wollen – also auf die Unterstützung des Aufbaus von Infrastruktur in den Steuerbehörden des Südens und die Ausbildung entsprechender Expert:innen. Dahinter steckt aber eine tiefgreifende Fehleinschätzung der Situation des Globalen Südens: Die Vertreter:innen des Nordens scheinen zu glauben, dass wir nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen und dass das der Grund für die heutigen Probleme in der internationalen Besteuerung sei.

 

Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompetenzen, sondern die Regeln des jetzigen Systems.

 

Was sagen Sie zu diesem Argument?

Dieses Argument ist unaufrichtig, denn selbst im Rahmen des vermeintlich integrativen OECD-Prozesses der letzten Jahre haben einige Entwicklungsländer erhebliche Bedenken am Inhalt der Mindeststeuer (Säule 2) und der Umverteilung der Besteuerungsrechte an Länder mit grossen Absatzmärkten (Säule 1) geäussert. Diese wurden jedoch konstant ignoriert. Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompetenzen, sondern die Regeln des jetzigen Systems. Wie ich in einem meiner Statements in den UNO-Verhandlungen sagte: «We can not capacity build ourselves out of unfair taxing rules».

Die Länder des Globalen Nordens versuchen in den Verhandlungen also, die für den Süden entscheidenden Fragen zu umgehen.

Ja. Mein Eindruck ist, dass sie nicht aufrichtig verhandeln. Das ist aber ein grundlegendes Prinzip multilateraler Verhandlungen. Alles auf «Capacity Building» beschränken zu wollen, wirkt nicht sehr vertrauensbildend. Der Steuerbericht des UNO-Generalsekretärs machte sehr deutlich, wie die mangelnde Inklusivität des heutigen Systems die internationale Steuerzusammenarbeit ineffektiv macht. Unsere Argumente sind also gut abgestützt, alles liegt auf dem Tisch.

Wie kann die zivilgesellschaftliche Steuergerechtigkeits-Bewegung diese falschen Narrative der EU oder der Schweiz effektiv kontern?

Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass anerkannt wird, dass die OECD-Lösungen der letzten zehn Jahre, wie die Entwicklung des automatischen Informationsaustausches von Bankkunden- und Konzerndaten oder die Mindeststeuer für multinationale Konzerne, für eine bedeutende Gruppe von Menschen, insbesondere für die Länder des Globalen Südens, nicht funktionieren. Deshalb streben wir eine UNO-Steuerkonvention an, die tatsächlich inklusiv ist. Einige mögen sagen, dass wir den Grossteil der bei der OECD geleisteten Arbeit bei der UNO als Errungenschaften auf regionaler Ebene anerkennen könnten. Die Frage wäre dann, nach welchen Kriterien das geschehen sollte. Teile der OECD-Reform werden vielleicht nie umgesetzt werden. Die Zeit drängt aber.

 

Porträt von Everlyn Muendo.

Everlyn Muendo

Die Kenianerin Everlyn Muendo ist Juristin beim Tax Justice Network Africa (TJNA). Sie beschäftigt sich dort mit der Frage, wie die internationale Steuerpolitik die Entwicklungsfinanzierung afrikanischer Staaten beeinflusst.

 

Was gilt es zu tun?

Für die Entwicklungsfinanzierung sind Steuern enorm wichtig. Hinter den technischen Diskussionen über Gewinnverteilungsregeln oder der Aufteilung der Besteuerungsrechte versteckt sich die chronische Unterfinanzierung essentieller Dinge: Es geht um den Aufbau angemessener Bildungssysteme für alle oder um die Bekämpfung der Krise im öffentlichen Gesundheitswesen im Globalen Süden. Es geht auch darum, mehr Ressourcen zur Finanzierung von Klimaschutzmassnahmen zu generieren. Kurz: es geht um Menschen, die zu Opfern der heutigen Steuerpolitik werden! Deshalb wollen wir diesen UNO-Prozess unbedingt vorantreiben.

 

Für Afrika ist eine angemessene Besteuerung des Rohstoffsektors zentral. Die Rohstoffe kommen von uns, aber ihr Wert wird ausserhalb Afrikas abgeschöpft.

 

Was bräuchte es in ressourcenreichen Ländern Afrikas, in denen die Rohstoffindustrie ein sehr wichtiger Wirtschaftszweig ist?

Für Afrika ist eine angemessene Besteuerung des Rohstoffsektors absolut zentral. Die meisten multinationalen Konzerne auf dem Kontinent sind in diesem Sektor tätig. Aber ihre Hauptsitze befinden sich natürlich in den Industrieländern des Nordens. Dahinter steckt eine sehr komplizierte Geschichte, die weit in unsere Kolonialgeschichte zurückreicht: Vor ihrem Abzug bauten die Kolonialisten unsere Wirtschaft noch so um, dass sie auch nach der Unabhängigkeit noch deren grösste Profiteure blieben. Anstatt beispielsweise die Ernährungssicherheit zu verbessern, wurden weiterhin überwiegend Kaffee, Tee, Feldfrüchte und andere Rohstoffe produziert. Also Luxusgüter, die vor allem in Industrieländern gefragt sind. Die Rohstoffe kommen von uns, aber ihr Wert wird ausserhalb Afrikas abgeschöpft. Umgekehrt werden die Produkte, die im Norden auf der Grundlage unserer Rohstoffe hergestellt werden, dann wieder an uns verkauft. Wir profitieren von unseren eigenen Ressourcen nicht so, wie wir sollten.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Welches Land ist für gute Schokolade bekannt? Es ist nicht Ghana.

Die Schweiz?

Sehen Sie! Das ist eine erstaunliche Tatsache, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der in die Schweiz importierten Kakaobohnen aus Ghana stammt. Mit schädlicher Steuerpolitik verlagern Konzerne Gewinne in der Höhe Hunderter Milliarden US-Dollar in den Norden. Selbst aus den tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivitäten der ausländischen Unternehmen in Afrika erhalten wir nicht unseren gerechten Anteil an Steuern. Das System ist wirklich gegen uns gerichtet.

Es wird noch dauern, bis neue UNO-Regeln Früchte tragen werden. Gibt es auch ausserhalb dieses Prozesses derzeit Möglichkeiten für Verbesserungen?

Wir kämpfen auch für mehr bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen auf der Grundlage des UNO-Modells, das viel besser ist als jenes der OECD. Aber damit waren wir bisher nicht sehr erfolgreich. Die Länder des Nordens sitzen in den Verhandlungen dank ihren Konzern-Hauptsitzen am viel längeren Hebel. Ausserdem sind einige dieser Länder richtige Rüpel! Selbst wenn Entwicklungsländer über viel Know-How verfügen, geben wir am Ende immer noch viele unserer Steuerrechte ab. Solange wir auf Direktinvestitionen aus diesen Ländern setzen, um unsere wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, können wir von ihnen steuerpolitisch unter Druck gesetzt werden. Dieser wirtschaftspolitische Ansatz führt in die Irre.

 

Everlyn Muendo hält ein Mikrofon in der einen Hand und gestikuliert mit der anderen Hand während sie an einem Redner:innenpult steht. Hinter ihr ist eine Plakatwand mit dem Logo des Tax Justice Network Africa darauf.

Muendo bei einem Austausch ihres Netzwerks zu Steuer- und Klimagerechtigkeit diesen November in Nairobi. © Tax Justice Network Africa

 

Die kenianische Regierung hat jüngst mit finanzpolitischen Reformen enorme politische Spannungen im Land ausgelöst. Weshalb?

Bei den Protesten gegen das Finanzgesetz vom Juni 2024 ging es um viel mehr. Sie waren Ausdruck der Frustration hart arbeitender Kenianer:innen über die zunehmenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten. Der Staat ist hoch verschuldet und die Regierung muss dringend mehr Mittel für den Schuldendienst und die wirtschaftliche Entwicklung aufbringen. Dazu führt sie neue Steuern ein, mit denen die Lebenshaltungskosten stark steigen: eine Ökosteuer, eine Kraftfahrzeugsteuer, eine erhöhte Strassenunterhaltsabgabe und die Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiung für bestimmte wichtige Konsumgüter. Das belastet tiefe Einkommen viel stärker als hohe. Gleichzeitig ist der Service public schwach. Der Grossteil der Einnahmen wird für den Schuldendienst verwendet – dieser kann mehr als 50% der Einnahmen verschlingen – und für Korruption, die wichtige öffentliche Dienstleistungen verdrängt: So wurden die Gehälter von Assistenzärzt:innen stark gekürzt. Ein neues Finanzierungsmodell für Universitäten wurde eingeführt. Damit schossen die Studiengebühren in die Höhe. Kenia ist zu einem Experimentierfeld für Austeritäts-Massnahmen geworden – auch unter dem Einfluss des Internationalen Währungsfonds. Dabei zahlen einfache Kenianer:innen mehr und erhalten weniger!

 

Wie könnt ihr in der Schweiz über Korruption in Afrika sprechen, ohne einzugestehen, dass ihr die grössten Förderer von Intransparenz und unlauteren Finanzströmen seid!

 

Was sagen Sie zum in der Schweiz oft erhobenen Vorwurf, dass von zusätzlichen Steuereinnahmen in afrikanischen Ländern sowieso nur korrupte Politiker:innen profitieren würden?

Wie könnt ihr in der Schweiz über Korruption in Afrika sprechen, ohne einzugestehen, dass ihr die grössten Förderer von Intransparenz und unlauteren Finanzströmen seid! Im Ernst, es braucht immer zwei für einen Tango. Ja, den korrupten afrikanischen Beamten gibt es. Aber wer besticht ihn? Viele Konzerne, zum Beispiel euer Glencore! Dessen Korruptionsfälle sind sehr aufschlussreich. Wieso wird die Verantwortung immer nur der einen Seite zugeschoben? Wir müssen anerkennen, dass undurchsichtige Finanzplätze wie die Schweiz korrupten Leuten aus unseren Ländern als sichere Verstecke dienen. Deshalb wird doch ein Grossteil der Vermögen im Ausland gehalten. Niemand sagt: «Oh, ich werde mein Geld in Kenia verstecken.» Nein! Es ist die Schweiz! Ihr seid aus gutem Grund berüchtigt!

Kommen wir zurück zur UNO. Im Februar stehen die nächsten Verhandlungen an. Könnten sich die Positionen des Globalen Nordens verändern?

Nun, es gibt in dieser Beziehung zwei interessante Entwicklungen: Erstens haben sich die EU-Staaten bei der Abstimmung über die Eckwerte der Konvention im August enthalten, statt Nein zu stimmen, wie sie das bei den früheren Resolutionen getan haben. Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass sich die sehr starke Skepsis des Globalen Nordens gegenüber dem Prozess an sich etwas entschärft. Das könnte sich positiv auf die nächsten Verhandlungsrunden auswirken. Zweitens könnte der Sieg Donald Trumps in den US-Präsidentschaftswahlen dazu führen, dass die USA sowohl OECD- wie UNO-Prozesse völlig blockiert. Bisher haben die Länder des Nordens immer gesagt, es brauche bei der UNO Entscheide im Konsens. Ich denke aber, dass sie diese Position angesichts der Entwicklungen in den USA jetzt anpassen müssen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Wäre es nicht besser, sich mit einfachen Mehrheitsentscheiden zufrieden zu geben, auch wenn der Konsens das Ideal ist? Manchmal läuft es halt einfach nicht nach dem eigenen Ideal. Statt sich von einem einzigen Land oder einer kleinen Gruppe von Ländern aufhalten zu lassen, wäre es demokratischer, allen anderen zu erlauben – sei es aus dem Globalen Norden oder Süden – vorwärtszumachen. Werden Entscheide im Konsens gefällt, haben die USA als wirtschaftlich stärkstes Land aber quasi eine Vetomacht. Da wäre es viel demokratischer, jedem Land in Mehrheitsentscheidungen eine gleichberechtigte Stimme zu geben.

 

Indem wir uns in der Steuerpolitik an die UNO wenden, können wir grundlegende Herausforderungen angehen.

 

Wo sehen Sie auf dem afrikanischen Kontinent positive Entwicklungen?

In verschiedenen afrikanischen Ländern fordern die Menschen mehr Rechenschaftspflicht von Spitzenpolitiker:innen und Wirtschaftsführer:innen. Vor allem in Westafrika, zum Beispiel im Senegal. Die Aufstände, die wir dort erlebt haben, sind bis zu einem gewissen Grad auch ein extremer Ausdruck des Wunschs nach Selbstbestimmung in Gesellschaften, die wir immer noch als postkolonial bezeichnen können. Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Egal ob wir uns den Handel, die Verschuldung, die Steuern oder was auch immer anschauen: Wir mögen zwar völkerrechtlich anerkannte Staaten mit politischer Souveränität sein, von wirtschaftlicher Souveränität sind wir aber weit entfernt. Indem wir uns in der Steuerpolitik an die UNO wenden, können wir diese grundlegenden Herausforderungen angehen. Denn Souveränität in der Besteuerung ist ein sehr wichtiger Teil wirtschaftlicher Souveränität.

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