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Gemeinsam gegen China – und die Ärmsten

10.12.2018, Handel und Investitionen

Von Donald Trump unter Druck gesetzt drängt auch die EU auf eine radikale Reform der Welthandelsorganisation WTO. Im Visier ist der locker Umgang Chinas mit WTO-Regeln. Kommt die Reform, so könnte sie auch den Entwicklungsländern schaden.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Gemeinsam gegen China – und die Ärmsten

Chinesische Arbeiter überprüfen Elektroautos im Werk des chinesisch-amerikanischen Joint Ventures SAIC-GM-Wuling in Qingdao, Shandong Provinz, VR China.
© Yu Fangping / Imaginechina / Keystone

Um den rasanten Aufstieg Chinas zur Welt(handels)macht einzudämmen, wollen nicht nur die USA, sondern auch die EU die Welthandelsorganisationen (WTO) in ihrem Sinn reformieren. Die große Gefahr besteht allerdings darin, dass die vorgeschlagenen Reformen auch für jene armen Länder gelten werden, die auf Technologietransfer und die Subventionierung ihres Industriesektors angewiesen sind. Arme Staaten, die eine umsichtige Entwicklungspolitik verfolgen, müssen sensible Sektoren schützen können und über staatliche Unternehmen verfügen, die einer sinnvollen Industriepolitik verpflichtet sind. Und sie müssen als Entwicklungsländer zurecht bevorzugt behandelt werden. Doch die einseitig auf China fixierte Reform der WTO droht, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Doch gehen wir der Reihe nach.

Nachdem er zunächst die Ernennung neuer Richter für das Berufungsorgan der Welthandelsorganisation blockiert hatte, drohte Präsident Trump am 30. August gar, die USA werde die WTO verlassen. Und dies, obwohl seit einiger Zeit drei Arbeitsgruppen an einer Reform der Organisation arbeiten, die Antworten auf die wichtigsten US-Kritikpunkte geben soll. Am 18. September hat schliesslich die Europäische Union ein «Konzeptpapier» zu einer Reform der WTO vorgelegt. Die Europäische Kommission hält darin klar fest, dass das multilaterale Handelssystem in der schwersten Krise seiner Geschichte stecke, und packt den Stier bei den Hörnern: Sie prangert die angeblich unlauteren Praktiken Chinas an, ohne den asiatischen Riesen je zu nennen.  

An erster Stelle steht dabei die heikle Frage des erzwungenen Technologietransfers. Die USA haben immer wieder ins Feld geführt, dieser sei einer der Hauptgründe dafür, dass sie Zölle in Höhe von rund 250 Mrd. Dollar auf chinesische Waren eingeführt hätten, und sie drohen damit, die Zölle um weitere 267 Mrd. Dollar zu erhöhen.

Tatsächlich haben auch mehrere unabhängige Beobachter1 festgestellt, dass China von ausländischen Investoren verlangt, strategisch wichtige Technologien und Innovationen auf eine chinesische Tochterfirma zu übertragen, bevor es den Zugang zu seinem riesigen Markt öffnet. Nach offiziellen US-Studien verlieren amerikanische Patentinhaber durch diesen erzwungenen Technologietransfer und den schwachen Schutz ihres geistigen Eigentums in China Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Milliarden Dollar. Wie gehen die Chinesen dabei vor? Sie zwingen multinationale Unternehmen, die in bestimmten Sektoren investieren wollen, zur Gründung von Joint Ventures mit lokalen Unternehmen, über die sie keine Kontrolle haben. So ist es beispielsweise in der Automobilindustrie geschehen, womit es chinesischen Herstellern gelingen könnte, an die erforderliche Technologie zur Produktion von Elektroautos zu kommen.

Pomodori – made in China

Für ausländische Investoren wird das spätestens dann zum Problem, wenn chinesische Unternehmen nicht nur auf ihrem Markt, sondern auch international zu ernsthaften Konkurrenten werden. Dies ist die bittere Erfahrung italienischer Hersteller von Tomatenmark: Ende der 1990er Jahre begannen sie mit dem Anbau von Tomaten und der Herstellung von Konzentrat in Xinjiang, der autonomen Region mit muslimischer und turksprachiger Mehrheit im Westen Chinas. Peking ist dort seit den 1950ern militärisch präsent, um die dort ansässigen Uiguren mit umstrittenen Methoden an den Rest Han-Chinas zu assimilieren. Die Italiener stellten stark subventionierten chinesischen Staatsunternehmen, bekannt für unterbezahlte Arbeit und Kinderarbeit, ihre Technologie und ihr Know-how zur Herstellung von Tomatenmark zur Verfügung, das sie schliesslich nach Italien reimportierten. Aber wie Frankensteins Monster wandte sich die Idee, im Billiglohnland zu investieren, schliesslich gegen die Italiener: Die Chinesen begannen, ihr Tomatenmark nicht nur nach Italien, sondern in die ganze Welt zu exportieren und in unlauterer Weise mit ihren italienischen Mentoren zu konkurrieren. Das Problem ist, dass «erzwungener Technologietransfer» schwer nachzuweisen ist, denn weder geben Unternehmen gerne zu, dass sie unter Druck gesetzt wurden, noch dass sie sich freiwillig bereit erklärt haben, Geheimnisse preiszugeben, um Marktanteile zu gewinnen. Denn ex-post ist klar, sie hätten sie lieber für sich behalten.

Staatliche Unternehmen

Erschwerend kommt hinzu, dass in China viele strategisch wichtige Branchen weitgehend von staatlichen Unternehmen dominiert werden. Dazu gehören Verkehr, Telekommunikation, Elektrizität, Fluggesellschaften oder Medikamente. Die CEOs dieser Unternehmen werden von der Kommunistischen Partei ernannt und die Entscheidungen, die sie treffen, dürften den Interessen des Landes – etwa auf dem Weg zum Bau eines chinesischen Passagierflugzeugs – mehr dienen als kurzfristigen kommerziellen Interessen. Aber selbst in sogenannt offenen Sektoren können ausländische Unternehmen unter Druck gesetzt werden, Technologie zu transferieren; dann wenn es um die notwendigen Bewilligungen geht, was sich auf lokaler Ebene oft schwierig gestaltet und undurchsichtig gehandhabt wird.
In ihrem «Konzeptpapier» vertritt die Europäische Kommission die Ansicht, dass die WTO neue Regeln benötige, um den Marktzugang für ausländische Investoren zu bisher geschlossenen Sektoren zu verbessern. Und auch um Praktiken zu verbieten, die als «diskriminierend» eingestuft werden. Dazu gehören etwa Auflagen, die von einem ausländischen Investor verlangen, vor Ort Vorleistungen zu erbringen, einen lokalen Dienstleister in Anspruch zu nehmen oder lokale Arbeitskräfte einzustellen.

Darüber hinaus erhalten die staatlichen Unternehmen in China häufig Subventionen; das ist gemäss WTO-Regeln zwar verboten, es wird jedoch nicht angemeldet und damit geduldet, so wie das auch die Hälfte aller WTO-Mitglieder handhaben. Darüber hinaus ist der Grad der staatlichen Einmischung in diese Unternehmen schwer zu messen. Die EU schlägt hier Klärung vor, sie will die Transparenz verbessern und strengere Kriterien durchsetzen, damit Überproduktion vermieden werden kann, die zu sinkenden Preisen auf den internationalen Märkten führt und den Wettbewerb verzerrt.

Was heisst das für Entwicklungsländer?

Im Visier der Vereinigten Staaten – und im Papier der Europäischen Kommission – steht auch das Dauerthema, wie mit den Entwicklungsländern umzugehen sei. Mit Ausnahme der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) – eine von den Vereinten Nationen definierte Kategorie, die derzeit 47 Länder umfasst – klassifizieren sich die WTO-Mitglieder selbst als Industrie- oder Entwicklungsländer. Letztere profitieren von einer besonderen und differenzierten Behandlung, der Erlaubnis höhere Zölle zu erheben und längeren Anpassungszeiten. Die Selbstdeklaration hat dazu geführt, dass heute zwei Drittel aller Mitglieder zu dieser Kategorie gehören und dass diese so unterschiedliche Länder wie die Elfenbeinküste, Südkorea und China umfasst. Dieses System wird von den Industrieländern zunehmend in Frage gestellt und die Europäische Kommission schlägt vor, dass Länder ihren Vorzugsstatus freiwillig aufgeben oder dass es eine andere Form der Abstufung geben soll. 

Diese Reformvorschläge sind ebenso radikal wie verblüffend. Gerade weil China eine Wirtschaftspolitik verfolgt hat, die teilweise im Widerspruch zu den WTO-Regeln steht, ist es zur zweitgrößten Macht der Welt geworden. China beschafft sich auf irreguläre Art Zugang zu Technologie, es schützt sensible und nicht wettbewerbsfähige Industriesektoren, begrenzt ausländische Investitionen in strategischen Sektoren, subventioniert staatliche Unternehmen, schreibt Leistungsziele vor und profitiert darüber hinaus auch noch von seinem Status als Entwicklungsland. Das hat in den letzten Jahren dermassen gut funktioniert, dass Chinas Wachstum heute beängstigende Dimensionen angenommen hat. Was jedoch nicht vergessen gehen darf: China hat in den letzten Jahren vorgemacht, dass eigene Entwicklung vor allem dann möglich ist, wenn die von den alten Handelsmächten dominierten Regeln umgangen werden.

1 Siehe hierzu namentlich das Peterson Institute for International Economics