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Ein Nein zu Doping reicht nicht mehr

07.10.2018, Finanzen und Steuern

Referendum zur Steuervorlage 17 hin oder her: Die progressiven Kräfte in der Steuerpolitik müssen für den Schweizer Fiskus eine nachhaltige Alternative zum Gewinnverschiebungsdoping aus dem Ausland entwickeln.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Ein Nein zu Doping reicht nicht mehr

Briefkastenfirmen gehören seit achtzig Jahren zum Steuer-Geschäftsmodell der Schweiz.
© Niklaus Stauss / Keystone

Ausgerechnet die NZZ, das Leibblatt des Unternehmensstandorts Schweiz, brachte es in ihrer Besprechung der Alliance Sud-Studie1 zur Steuerreform 17 (SV17) auf den Punkt.«Im Kern geht es aus Schweizer Sicht um die Abwägung zwischen „Steuergerechtigkeit“ und Maximierung der Steuererträge. […] Bei Steuerprivilegien gilt Ähnliches wie beim Doping im Radsport: Es gibt manche Argumente dagegen, doch die Kernargumente dafür („die anderen machen es auch“ oder „ich kann mir einen Vorteil verschaffen") sind oft unwiderstehlich.“»

Exemplarisch zeigt die seit 2014 laufende Debatte zur dritten Unternehmenssteuerreform seit 1998, wie tief die Schweizer Unternehmenssteuerpolitik tatsächlich im Dopingsumpf steckt. Im Unterschied zu den beiden vorherigen Reformen von 1998 und 2008 hätte die aktuelle ursprünglich nicht eine weitere Aushöhlung der lückenlosen Besteuerung von Unternehmensgewinnen und damit Milliardengeschenke für multinationale Konzerne in der Schweiz bringen sollen. Vielmehr wollte die damalige Finanzministerin Widmer-Schlumpf auf Drängen der OECD, der EU und der G20-Staaten bestehende Schlupflöcher stopfen und unfaire Sondersteuerregime abschaffen. Das Reformprojekt unter dem Namen Unternehmenssteuerreform III (USR III) baute die rechte Mehrheit im Parlament 2016 jedoch so um, dass sie dieses Ziel dreist torpedierte und in sein Gegenteil verkehrte: Statt einer Korrektur alter Fehler aus der USR II und der USR I sollte es weitere Milliardengeschenke für Konzerne auf Kosten des Service public in der Schweiz und weltweit geben. Im Februar 2017 scheiterte dieses Projekt an der Urne folgerichtig deutlich. Eineinhalb Jahre später hat das eidgenössische Parlament die SV17 verabschiedet, die sich kaum von der an der Urne gescheiterten USR III unterscheidet, wenn es um Anreize für Gewinnverschiebungen aus Entwicklungsländern geht. Das zeigte Alliance Sud in ihrer Mitte September publizierten Studie anhand von zwei Steuerdumpingvehikeln, welche die aktuelle Reform überdauern werden. Ob die Stimmberechtigten die Reform bei einer erneuten Referendumsabstimmung schlucken würden, sei dahingestellt. Aus entwicklungspolitischer Sicht sind wir jetzt jedenfalls wieder ungefähr dort, wo wir vor dem Abstimmungskampf gegen die USR III schon einmal waren.

Für eine echte steuerpolitische Alternative

Unabhängig von der Frage, ob ein erneutes Referendum gegen die Steuervorlage 17 inhaltlich und strategisch sinnvoll ist, zeigt die Steuerdebatte der vergangenen Jahre: Wollen die VerfechterInnen von Steuergerechtigkeit und globaler wirtschaftspolitischer Verantwortung der Schweiz tatsächlich einen Schritt weiter kommen, dann müssen sie ein steuer- und wirtschaftspolitisches Gegenprojekt zur «Steueroase Schweiz» entwickeln. Es muss darum gehen, diesem Land einen Ausweg aus seinem während achtzig Jahren praktizierten Geschäftsmodell weisen, das ausländischen Reichtum zum eigenen Vorteil verwaltet und auch stark davon lebt, Unternehmensgewinne in der Schweiz zu versteuern, die anderswo erwirtschaftet werden. 

Ein solches Gegenprojekt ist aus zwei Gründen dringend: Zuerst einmal, weil der Preis, den eine Steueroase bezahlen muss, je höher wird, desto tiefer die Besteuerung der Unternehmensgewinne sinkt. Und das tut sie im globalen Massstab mittlerweile seit vierzig Jahren. Die Schweiz ist mit ihrem jetzigen Geschäftsmodell gezwungen, andere Standorte in der Abwärtsspirale stets weiter zu unterbieten. Irgendwann ist dieser Vorsprung gegenüber Konkurrenzstandorten – auch Beggar-thy-neighbour-Politik, also Seinen-Nachbarn-zum-Bettler-machen-Politik genannt – nur noch mit massiven Kürzungen bei der öffentlichen Finanzierung der eigenen gesellschaftlichen Aufgaben tragbar. Will die Schweiz – und vor allem ihre Kantone – weiterhin an ihrer Tiefsteuerpolitik für Konzerne festhalten, so wird es über kurz oder lang weitere massive Abstriche bei der öffentlichen Finanzierung der Gesundheitsversorgung, in den Schulen und Universitäten, bei der Energie- und Verkehrsinfrastruktur und dem unkommerziellen Kulturangebot geben. Die Ungleichverteilung der Vermögen in der Schweiz wird zudem weiter zunehmen, weil die gegenwärtige Unternehmenssteuerpolitik vor allem die in- und ausländischen Aktionäre der hier ansässigen Konzerne begünstigt. 

Eine weltinnenpolitische Allianz der Zivilgesellschaft

Die Frage der zukünftigen Schweizer Unternehmenssteuerpolitik ist deshalb sehr wesentlich auch eine entwicklungs- und globalpolitische. Die Schweiz darf nicht länger auf ein Steuersystem setzen, das anderen Ländern Steuereinnahmen entzieht. Sie muss vielmehr einen Umbau ihrer Unternehmenssteuerpolitik in Angriff nehmen, der dazu beiträgt, dass die UNO-Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreicht werden können. Die Umsetzung dieser Ziele kostet weltweit 5000 bis 7000 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Mit der sofortigen und ersatzlosen Streichung der alten Sondersteuerregime und der Einführung von weiteren Massnahmen, die Gewinnverschiebungen aus dem Ausland in die Schweiz nachhaltig stoppen und gleichzeitig den innerschweizerischen Steuerwettbewerb bremsen, könnte die Schweiz einen äusserst effektiven Beitrag zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung der Welt leis­ten. Die SV17 ist aber kein Schritt in diese Richtung, sondern – dank der Verknüpfung mit der AHV-Finanzierung – im allerbesten Fall eine mittelfristige Wohlstandsabsicherung im Inland auf Kosten der Welt. Angesichts der aktuellen globalen Entwicklungen ist das aber ein äusserst bescheidener politischer Anspruch: Wenn die Weltgemeinschaft in den nächsten fünfzehn Jahren nicht fähig wird, der drohenden Klimakatastrophe, der explodierenden globalen Vermögensungleichheit und einem neuen transnationalen Nationalismus und Rassismus politische Paradigmenwechsel entgegenzusetzen, die von den Bevölkerungen mitgetragen werden, wollen wir uns lieber nicht vorstellen, in was für einer Welt unsere Kinder 2050 werden leben müssen. Um diese globalpolitischen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es auch öffentliche Finanzierungen, also Steuereinnahmen. 

Raus aus dem Doping, aber wie?

Als führende globale Finanz- und Handelsdrehscheibe hat die Schweiz in dieser Beziehung gewichtige wirt­schaftspolitische Hebel in der Hand. Entsprechend gross ist auch die Verantwortung der progressiven, klima- und zukunftsbewussten politischen Kräfte in der Schweiz, zumindest den Versuch zu unternehmen, dieses Land in Richtung einer weltverträglichen und auch auf globaler Ebene sozial und ökologisch nachhaltigen Finanz-, Handels- und Steuerpolitik zu bewegen. Der Umstand, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell der Steueroase Schweiz weder aus innen- noch aus aussenpolitischer Perspektive eine Zukunft hat, die der Allgemeinheit dient, zeigt die strategische Richtung einer denkbaren neuen zivilgesellschaftlichen Allianz für eine neue Schweizer Finanz- und Steuerpolitik auf: Diese Strategie muss von einer weltinnenpolitischen Perspektive ausgehen, deren Ziel eine ökologisch-demokratische Gesellschaft ist. Oberstes Ziel muss der soziale Ausgleich sein; und zwar gleichermassen auf der lokalen, regionalen, nationalen und globalen Ebene. 

Die Ausgangsfrage für die Arbeit an einer neuen Schweizer Unternehmenssteuerpolitik könnte deshalb lauten: Wer ist auf das Doping tatsächlich angewiesen und wie schaffen wir den Ausstieg, ohne dass der hiesige Radsport tatsächlich zum Erliegen kommt?

1Alliance Sud (Hg.): Steuervorlage 17. Vorwärts in die Vergangenheit, Bern 2018.