AFGHAN FUND

«Die Wirtschaft muss stabilisiert werden»

01.10.2024, Entwicklungsfinanzierung

Während Milliarden afghanischer Währungsreserven in der Schweiz parkiert sind, leidet die Zivilbevölkerung in Afghanistan unter einer dramatischen wirtschaftlichen Lage. Der Co-Leiter des Afghan Fund, Shah Mehrabi, fordert nun gezielte Auszahlungen.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

«Die Wirtschaft muss stabilisiert werden»

Die Menge an Afghani-Banknoten im Land schwankt stark. Banknotenhändler sind in Kabul allgegenwärtig.
© Keystone/EPA/Samiullah Popal

Drei Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban steht Afghanistan am Rand des Abgrunds. Die Rechte der Kinder und Frauen werden mit Füssen getreten: Sie sind im öffentlichen Raum praktisch unsichtbar geworden – Sporteinrichtungen, Hammams, Schönheitssalons und Parks sind für sie tabu. Ihre Schulbildung endet mit der Primarschule und am Arbeitsplatz herrscht rigorose Geschlechtertrennung. Medien und Opposition sind Opfer von Repression. Die Hälfte der Bevölkerung ist mittlerweile von Armut betroffen und 90% können ihren Grundbedarf an Nahrungsmitteln nicht mehr decken.

«Die Wirtschaft befindet sich in einer äusserst prekären Lage, vor allem wegen der dem Bankensektor auferlegten Beschränkungen, der Unterbindung von Handel und Geschäftsverkehr, der Schwächung und Isolation öffentlicher Institutionen und des fast gänzlichen Ausbleibens ausländischer Investitionen und finanzieller Unterstützung der ausländischen Geber in Sektoren wie der Landwirtschaft und der verarbeitenden Industrie», warnten die Vereinten Nationen Anfang Jahr.

Derweil bleiben Milliarden von Dollar, die von Genf aus durch den Fund for the Afghan People (Afghan Fund) verwaltet werden, ungenutzt. Der Fonds wurde vor zwei Jahren zur Verwaltung von ausländischen Währungsreserven der Afghanischen Zentralbank (DAB) eingerichtet; diese waren bei der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 eingefroren worden. Zu jenem Zeitpunkt hielt die Federal Reserve Bank in New York 7 Mrd. USD dieser Währungsreserven. Weitere 2,1 Mrd. USD befinden sich in Europa und anderen Ländern. Um zu verhindern, dass das in den USA deponierte Geld von den Opfern des 11. Septembers eingefordert wird, schlug Präsident Biden vor, die Hälfte davon im Ausland zu parkieren. So flossen 3,5 Milliarden USD auf ein Konto der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich mit Sitz in Basel, und in Genf wurde eine Stiftung zur Verwaltung des Geldes eingerichtet: der Afghan Fund (siehe global #89). Dessen Zweck ist es, die Gelder zu verwalten und einen Teil davon unter Einhaltung strikter Auflagen an die DAB zurückzugeben. Ende Juni 2024 beliefen sich die Vermögenswerte einschliesslich Zinsen auf 3,84 Mrd. USD.

Schädliche Deflation

Doch heute, zwei Jahre später, ist immer noch kein einziger Cent zurückbezahlt. Weshalb? «Zunächst einmal liegt ein mangelndes Verständnis der Regeln vor: Dieses Geld ist nicht für humanitäre Zwecke bestimmt, sondern zur Stabilisierung des Finanzsystems», antwortet uns Shah Mehrabi, einer der beiden afghanischen Co-Leiter des Fonds, per Telefon aus den USA. Der Professor am Montgomery College in Maryland weist zunächst auf makroökonomische Aspekte hin: Währungsreserven sind Vermögenswerte, die von den Zentralbanken in ausländischer Währung gehalten werden, um die Zahlungsfähigkeit eines Landes zu sichern und die Geldpolitik zu beeinflussen. Ziel ist es, die Zentralbanken vor einer schnellen Abwertung der Landeswährung zu schützen. Diese Reserven spielen eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der Wechselkurse, der Stärkung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger, der Bereitstellung von Liquidität für das Bankensystem und der Deckung von Importkosten.

«Nun hat die DAB gemeldet, dass die Geldmenge, d. h. die im Umlauf befindlichen Zahlungsmittel, gesunken ist», fügt er hinzu. «Woran liegt das? Einer der Faktoren ist das Einfrieren der Reserven. Wenn weniger Geld im Umlauf ist, können die Menschen weniger kaufen, die wirtschaftliche Aktivität sinkt und das wiederum wirkt sich auf die Preise und Wechselkurse aus. Genau dies ist in Afghanistan zu beobachten: Unternehmen kommen nicht an Geld, um zu investieren, was zu einer geringeren Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen führt. Also senken sie die Preise immer weiter, um die Menschen zum Kauf anzuregen. Die Folge ist eine Deflation, die für die Wirtschaft genauso schädlich ist wie die Inflation.»

Solide Struktur aufgebaut

«Wir haben viel erreicht», fährt er fort. Doch was genau? In Bezug auf die Governance des Fonds bestätigt er, dass eine solide Struktur geschaffen wurde: Es wurden Statuten verabschiedet und ein Stiftungsrat ernannt, der transparent über die Verwaltung der Vermögenswerte berichten soll. Das Gremium besteht aus ihm selbst, Anwar-ul-Haq Ahady, dem ehemaligen DAB-Direktor und früheren Finanzminister Afghanistans, Jay Shambaugh, einem Vertreter des US-Finanzministeriums, und Botschafterin Alexandra Baumann, Leiterin der Abteilung Wohlstand und Nachhaltigkeit des EDA. Die Entscheidungen werden einstimmig getroffen, was bedeutet, dass de facto jedes Mitglied ein Vetorecht hat.

Die Mitglieder des Stiftungsrats entwickelten eine proaktive Anlagestrategie und beauftragten eine Beratungsfirma mit der Ausarbeitung von Compliance- und Audit-Massnahmen. Dadurch sollen Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung verhindert werden. Der Posten eines geschäftsführenden Sekretärs wurde geschaffen, eine Kommunikationsstrategie entwickelt und ein internationaler Beirat gegründet.

«Gezielte Auszahlungen möglich»

«Die Massnahmen, die wir ergriffen haben, waren Teil der Anforderungen, die vor jeglicher Auszahlung erfüllt werden müssen», fährt Shah Mehrabi fort. «Meiner Meinung nach sind die Bedingungen für gezielte Auszahlungen zur Stabilisierung des Wechselkurses, zum Drucken von Banknoten und zur Bezahlung von Importen nun gegeben. Allerdings in kleinen Teilbeträgen, denn zu viel Geld einzuschiessen, würde Inflation erzeugen.»

Er fügt hinzu, dass der Afghani trotz erheblicher Herausforderungen stabil geblieben sei, insbesondere gegenüber dem US-Dollar, dank der soliden Geldpolitik der DAB. Dazu gehören Devisenversteigerungen, strengere Kontrollen des Schmuggels, ein Anstieg der Exporte, humanitäre Hilfe und Rücküberweisungen. «Diese Stabilität hat jedoch auch zu einer Deflation geführt, die auf den weltweiten Preiszerfall und die Aufwertung des Afghani zurückzuführen ist. Derzeit liegt die Deflationsrate bei -9,2% und ist damit etwas niedriger als vorher (-9,7%). Um die Deflation weiter zu verringern, muss die Zentralbank möglicherweise die Dollar-Auktionen reduzieren und den Umlauf afghanischer Banknoten erhöhen», so seine Schlussfolgerung.

Taliban von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt

Die politische Lage ist jedoch sehr komplex. Das derzeitige Regime wird von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit wird zwar im Herbst ein humanitäres Büro in Kabul eröffnen (siehe Box), die Kontakte zu Vertretern der Taliban bleiben allerdings rein technischer Natur.

Die rechtlichen und diplomatischen Mittel sind begrenzt, was die Handlungsfähigkeit des Fonds erschwert. Allerdings sind gegen die DAB keine internationalen Sanktionen verhängt. Was die Taliban betrifft, so anerkennen sie den Afghan Fund nicht. Sie wollen ihr Geld zurück. Immerhin, so der Wirtschaftswissenschaftler, würde mit einem Teil der von den USA eingefrorenen Vermögenswerte etwas gemacht – ganz im Gegensatz zu den von der EU eingefrorenen 2,1 Mrd. USD.

«Wir können das afghanische Volk nicht leiden lassen. Es ist im Interesse aller, diese Auszahlungen nun aktiv vorzunehmen. Humanitäre Hilfe allein löst das Problem nicht. Wichtig ist eine langfristige Entwicklung. Es muss gehandelt werden», schliesst Merhabi, dessen Mandat für den Afghan Fund wie auch jenes der anderen Stiftungsratsmitglieder im September für weitere zwei Jahre verlängert wurde.

 

 

DEZA kehrt zurück nach Kabul

Wie die meisten Länder beabsichtigt auch die Schweiz derzeit keinen Neustart der langfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan. Zumindest aber kehrt sie ins Land zurück. «Die DEZA [Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit] wird im Herbst 2024 ein humanitäres Büro in Kabul eröffnen», bestätigt uns Alain Clivaz, ihr Sprecher. «Sie wird ihre Räumlichkeiten im ehemaligen Kooperationsbüro beziehen, das 2021 geschlossen wurde. Das humanitäre Büro wird aus vier Mitgliedern des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) vor Ort bestehen. Das DEZA-Team ist für die Umsetzung, Begleitung und Überwachung der von der DEZA finanzierten Projekte verantwortlich.»

Der EDA-Sprecher weist darauf hin, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nach wie vor komplex ist und erhebliche Risiken für sämtliche Aktivitäten im Land birgt. Er versichert aber, dass die DEZA die Entwicklung der Lage genau verfolgt und über ein breit abgestütztes Sicherheitsdispositiv für ihr Personal verfügt, das diese Rückkehr nach Kabul ermöglicht.

«Das DEZA-Büro stellt auf technischer Ebene Kontakte zu Vertretern der Taliban her, wenn diese für die Umsetzung der Projekte notwendig sind», schliesst er.

Für Alliance Sud ist die Präsenz vor Ort wichtig, doch kann humanitäre Hilfe allein eine funktionierende Wirtschaft nicht ersetzen. Die Schweiz muss dafür sorgen, dass die vom Afghan Fund verwalteten Gelder mit aller gebotenen Vorsicht an die DAB zurückbezahlt werden. Dies, damit die afghanische Bevölkerung nicht mehrfach abgestraft wird: einerseits durch ein repressives Regime und Sanktionen und andererseits durch die Ächtung der internationalen Gemeinschaft.

 

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