WIEDERAUFBAU DER UKRAINE

Schweizer Unternehmen als Profiteure?

03.10.2024, Entwicklungsfinanzierung

Der Bundesrat will 500 Millionen Franken für den Wiederaufbau der Ukraine dem Schweizer Privatsektor zuschanzen. Dies ist sicher nicht im Interesse der ukrainischen Wirtschaft und ihren Unternehmen.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Schweizer Unternehmen als Profiteure?

Grosse ukrainische Stahlwerke wie Saporischstal wurden angegriffen oder besetzt und können ihre Produktionsmengen kaum halten. © Keystone/EPA/Oleg Petrasyuk

Am 11. Juni stellte Bundesrat Ignazio Cassis anlässlich der Ukraine Recovery Conference (URC) in Berlin die Selbstverpflichtung der Schweiz vor: «Erstens: Der Privatsektor spielt eine Schlüsselrolle im Wiederaufbauprozess. Die Schweiz fördert nachhaltige Rahmenbedingungen und sorgt dafür, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) funktionieren und wettbewerbsfähig bleiben.» In Zusammenarbeit mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) unterstütze die Schweiz einen neuen Mechanismus zum Schutz privater Investitionen vor Kriegsrisiken und sei bereit, sich der Allianz zur Unterstützung von KMU anzuschliessen, die an der Konferenz gegründet werde. Man konnte also davon ausgehen, dass der Schweizer Aussenminister vor allem die Unterstützung ukrainischer Unternehmen und der ukrainischen Wirtschaft im Sinn hatte.

Doch zwei Wochen später, am 26. Juni, gab der Bundesrat bekannt, «dem Schweizer Privatsektor eine führende Rolle beim Wiederaufbau der Ukraine» einräumen zu wollen. Dafür will er in den nächsten vier Jahren ein Drittel der 1.5 Milliarden Franken verwenden, die in der Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2025-2028 für die Ukraine vorgesehen sind. Die Mittel werden dabei fast vollumfänglich von der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zum Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verschoben. Verwaltet wird das gesamte «Ukraine-Budget» von Jaques Gerber, derzeit jurassischer FDP-Staatsrat, der als Ukraine-Delegierter im Generalsekretariat des EDA sitzen und direkt den Bundesräten Cassis und Parmelin unterstellt sein wird.
Die Pläne des SECO

Soweit (oder so wenig) bekannt, haben die Pläne des SECO zwei Phasen. In der ersten sollen Schweizer Unternehmen unterstützt werden, die bereits in der Ukraine sind, damit sie Arbeitsplätze schaffen oder erhalten. Dies soll dadurch geschehen, dass der Bund Risiken der Unternehmen übernimmt, etwa durch Finanzhilfen oder Versicherungslösungen. Als Feigenblatt dafür, das Geld aus dem IZA-Budget abzuzweigen, sollen die Projekte der unterstützten Unternehmen eine «Entwicklungskomponente» haben, etwa Massnahmen zur Berufsbildung. So weit, so unklar. Genannt werden hingegen mögliche Begünstigte, etwa der Glashersteller und Glasverarbeiter Glas Trösch. Zudem zielen einige der Massnahmen darauf ab, dass Schweizer Firmen, die noch nicht in der Ukraine tätig sind, dort investieren. Sollte dies gemacht werden, könnten erst recht lokale KMUs und Unternehmen verdrängt werden.

Noch viel problematischer ist die zweite Phase, in der das SECO die «generelle Bevorzugung des Schweizer Privatsektors» plant. Die Ukraine erhielte dann also Geld von der Schweiz, das sie nur für Einkäufe bei Schweizer Firmen verwenden dürfte. Diese gebundene Hilfe (tied aid) widerspricht der guten Praxis in der internationalen Zusammenarbeit (IZA), den WTO-Bestimmungen und dem Schweizer Beschaffungsrecht. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage; diese soll in den nächsten Monaten geschaffen werden. Für den Bundesrat reicht dafür ein Staatsvertrag mit der Ukraine, die aussenpolitische Kommission des Ständerates hat hingegen ein eigenes Gesetz gefordert. Den abschliessenden Entscheid über das gesamte Paket fällt das Parlament im Rahmen der IZA-Strategie in der Wintersession. Die bundesrätliche Entscheidung einer Vorzugsbehandlung für den Schweizer Privatsektor ist aber offensichtlich nicht kongruent mit den in Berlin gemachten Versprechen. Dass die Ukraine selbst entscheiden könne, was sie von Schweizer Firmen brauche, ist kein überzeugendes Argument. – In einer Notlage nimmt man die Einkaufsgutscheine der Migros, auch wenn dies dem eigenen Dorfladen schadet, der eigentlich viel wichtiger wäre.

Stärkung der lokalen Wirtschaft

Was die Ukraine wirklich braucht, ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, und somit auch der Schweiz, für ihre eigene Wirtschaft und ihre nationalen Unternehmen. Rund 90% davon sind KMUs, die trotz der Unwägbarkeiten des Krieges eine ausserordentliche Widerstandsfähigkeit an den Tag legen. Eine aktuelle Studie der London School of Economics1 kommt zum Schluss, dass die ukrainische Wirtschaft sich als erstaunlich resilient erwiesen hat, ihre Wachstumsaussichten jedoch gering bleiben werden, solange der Krieg andauert. Ukrainische Produzenten verlieren nationale Marktanteile an internationale Konkurrenten, die nicht unter Kriegsbedingungen operieren. Dies zeigt, dass ihre relativ offene Wirtschaft (durch das Assoziierungsabkommen insbesondere gegenüber der EU) schlecht an die Bedingungen in Kriegszeiten angepasst ist. In dieser Situation ist die verstärkte öffentliche Beschaffung des Staates von Waren und Dienstleistungen bei ukrainischen Privatunternehmen ein wichtiges Instrument, um die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft während des Krieges zu stärken und die Produktionskapazität und die Beschäftigung zu stützen. So kann sich die ukrainische Wirtschaft gleichzeitig auf die künftige Erholung und den Wiederaufbau vorbereiten.

«Made in Ukraine» fördern

Die Gebergemeinschaft und die Schweiz sollten deshalb eine «Standortoffensive» für die Ukraine verfolgen, um deren Kapazitäten zu konsolidieren und auszubauen. Das Subventionsprogramm «Made in Ukraine» der ukrainischen Regierung zur Steigerung der inländischen Produktion muss unterstützt werden. Die Geberländer sollten die Verwendung von lokalen Vorprodukten (local content) und lokale Einkäufe zu einer Bedingung für die finanzielle Unterstützung der Ukraine machen, damit die Hilfsgelder für die Ukraine in der Ukraine ausgegeben werden. Auch die Förderung des Technologietransfers für die ukrainische Wirtschaft fällt unter diesen Ansatz. Die Folge wären nicht nur höhere Steuereinahmen, sondern durch die Steigerung von Exporten auch Deviseneinnahmen, die beide zur Rückzahlung der Wiederaufbaukredite der Gebergemeinschaft (vor allem der EU) dringend nötig sein werden.

Darüber hinaus sollten die Geber die Zusammenarbeit zwischen ihren und ukrainischen Unternehmen bei der Güterproduktion (z. B. über Joint Ventures oder Konsortien) mit Versicherungsmodellen gegen Kriegsrisiken und mit günstigen Finanzierungen fördern. Dies kann kurzfristig die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft stärken, solange der Krieg andauert, und mittel- bis langfristig zu ihrer Integration in die globalen Produktionsketten beitragen. Dieser Teil der ersten Phase der Schweizer Pläne wäre mit den entsprechenden Rahmenbedingungen also sinnvoll.

Der Wiederaufbau muss im Sinne eines Übergangs zu einer grünen Wirtschaft geplant werden, sowohl um die ukrainische Wirtschaft nachhaltig zu gestalten als auch um die Anpassung an den Green Deal der EU zu erleichtern. Investitionen in saubere Energie werden von entscheidender Bedeutung sein, ebenso wie die Dezentralisierung der Energieerzeugung – die Ukraine verfügt über eine grosse Anzahl kleiner Kraftwerke –; so wird die Anfälligkeit für russische Angriffe reduziert. Ausländische Partner und Investoren sollten ukrainische Unternehmen unterstützen, denen es an Fachkenntnissen und Humankapital mangelt, und sie bei der Implementierung von Spitzentechnologien (einschliesslich emissionsfreier Technologien) begleiten. Auch hierzu könnten die Pläne des SECO einen Beitrag leisten.

Finanzierung von Unternehmen

Eine enorme Finanzierungslücke besteht jedoch bei der Modernisierung der ukrainischen Industrie, die für den Wiederaufbau nötig ist. Insbesondere im Baustoff- oder Metallsektor, wo die Strukturen teilweise noch aus der Sowjetzeit stammen, muss die Dekarbonisierung vorangetrieben werden. Zur Bereitstellung der langfristig notwendigen Mittel für solche Reindustrialisierungs-Projekte wäre eine ukrainische Entwicklungsbank geeignet. Westliche Partner wie die Schweiz könnten Kiew bei der Beschaffung der Mittel und der Gewährung von Garantien zur Seite stehen, um die Finanzierung ukrainischer Unternehmen in grossem Massstab zu realisieren.

Für Alliance Sud ist klar: Gewisse Massnahmen der ersten Phase der Pläne des SECO können sinnvoll sein, wenn sie Arbeitsplätze schaffen, den Technologietransfer – insbesondere «grüner» Prägung – fördern, Partnerschaften mit lokalen Unternehmen beinhalten und sichergestellt ist, dass durch die Förderung von Schweizer Firmen keine lokalen Firmen verdrängt werden. Es ist dabei dringend nötig, dass über die konkreten Pläne transparent berichtet wird, damit deren Nutzen oder Schaden beurteilt werden kann. Im Zentrum der Schweizer Hilfe sollte aber die Unterstützung des lokalen Privatsektors und der ukrainischen Wirtschaft stehen. Dafür braucht es primär Geld; am besten würde die Schweiz dafür bestehende multilaterale Kanäle nutzen, anstatt in der Ukraine die «Swissness» zu pflegen.

Die zweite Phase, die lediglich zum Ziel hat, der Schweizer Exportwirtschaft ein «Stück vom Kuchen» des Wiederaufbaus zu sichern, würde den Interessen der ukrainischen Wirtschaft eindeutig zuwiderlaufen. Eine längerfristig stabile ukrainische Wirtschaft nützt aber auch der Schweiz mehr als volle Auftragsbücher einzelner Unternehmen. Diese Pläne sollten deshalb gestoppt werden. Und natürlich liegt es auf der Hand, dass diese Tätigkeiten nur am Rande die Prioritäten der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz berühren und deshalb nicht aus dem IZA-Budget finanziert werden dürfen.

 


1 A state-led war economy in an open market. Investigating state-market relations in Ukraine 2021-2023. LSE Conflict and Civicness Research Group, 4. Juni 2024.

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