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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
DIE SÜD-PERSPEKTIVE
29.11.2024, Weitere Themen
Die jemenitische Bevölkerung weiss, was sie braucht. Jetzt müssen die politischen Eliten zuhören. Gastkommentar von Hisham al-Omeisy
Im März jährte sich der immer noch andauernde Konflikt im Jemen zum neunten Mal. Ein Konflikt, der eine stolze Nation – meine Nation – in die Knie gezwungen hat. Wir gehen mit einer zerstörten Infrastruktur, einem Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und sehr wenig Hoffnung in dieses zehnte Kriegsjahr. Trotzdem hören wir selten direkt Stimmen darüber aus der Bevölkerung, wie sich der Krieg auf ihr Leben und die Gemeinschaften ausgewirkt hat und was sie sich für die Zukunft wünscht. Das muss sich ändern.
Der polarisierende Charakter des jemenitischen Konflikts ist durch regionale Einmischung, Korruption und Stammesdenken geprägt. Hinzu kommen kurzsichtige Eigeninteressen und Vetternwirtschaft, was die Gesellschaft gespalten und ihr soziales Gefüge komplett zerrieben hat.
Als der Krieg begann, traten opportunistische Gruppierungen aus unterschiedlichen Lagern auf den Plan, um das Vakuum zu füllen, das durch den Zusammenbruch der Regierung und des Staates entstanden war. Während diese Gruppen an Boden gewannen und ihren Einfluss im ganzen Land vergrösserten, verstummte die grosse Mehrheit der Jemenitinnen und Jemeniten angesichts der bewaffneten, politischen, sozialen und kulturellen Gewalt. Die Durchschnittsbürgerinnen und -bürger haben seither kaum noch die Möglichkeit, ihre Meinungen oder Bedürfnisse zu äussern, obwohl die Lage besorgniserregend ist: Die UNO schätzt, dass mehr als 80% der Bevölkerung in irgendeiner Form auf Hilfe angewiesen sind. Fast 400’000 Menschen sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Mehr als 4 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Weitere Millionen sind traumatisiert. Doch aus erster Hand hört man kaum etwas darüber.
Eine vom European Institute of Peace durchgeführte Befragung von fast 16’000 Menschen im Jemen ergab, dass mehr als drei Viertel der Menschen ihre Bedürfnisse in der ganzen thematischen Bandbreite der Diskussionen, die ihr Leben betreffen, nicht wiederfinden oder angemessen vertreten sehen. Das betrifft sowohl Friedensgespräche wie auch lokale Prioritäten wie die Bereitstellung von Grundversorgung, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Existenzgrundlagen, die Lösung von Umweltproblemen und Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen.
Die Befragung zeigte auch, dass das Leiden der Menschen und ihre Vorstellungen von Veränderungen weitaus vielfältiger sind als alles, was in den Gesprächen über die Beendigung des Krieges diskutiert wird. Die Kluft zwischen der politischen Elite und den Durchschnittsbürgerinnen und -bürgern könnte nicht grösser sein.
Protestierende an einer Demo in Sanaa, Jemen, werfen dem Ausland eine Mitschuld am Niedergang der jemenitischen Wirtschaft vor. © Reuters / Mohamed al-Sayagh
Deshalb haben die Menschen im Jemen zunehmend das Gefühl, dass ihre Nöte und Sorgen nicht Teil dessen sind, was die internationale Gemeinschaft für ihr Land fordert, und dass die offiziellen Friedensbestrebungen von den Realitäten vor Ort meilenweit entfernt sind.
Der Konflikt durchdringt sämtliche Bereiche des Lebens. Themen wie Sicherheit und Wirtschaft sind eng miteinander verknüpft. Doch die Akteure in den Friedensverhandlungen scheinen sich der lokalen Dynamik und der historischen und kulturellen Gegebenheiten, an welchen selbst die schlüssigsten und aufrichtigsten Bemühungen scheitern könnten, nicht bewusst zu sein.
Ein Lichtblick sind journalistische Initiativen wie das Yemen Listening Project, das Jemenitinnen und Jemeniten zu den Auswirkungen des Kriegs auf ihr Leben befragt hat und so einen Resonanzraum für jemenitische Stimmen bietet.
Pathways for Reconciliation, eine unabhängige nationale Plattform, die vom European Institute of Peace unterstützt wird und im vergangenen Jahr ins Leben gerufen wurde, bietet der jemenitischen Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Meinung zu artikulieren, ihren Einfluss geltend zu machen und Wege zu finden, ihre Forderungen durchzusetzen. Sie soll der Bevölkerung als Sprachrohr dienen, sie verstärkt in die Diskussion um Versöhnung und Frieden einbinden und sie ermutigen, die für sie wichtigen Probleme auf lokaler und nationaler Ebene zu diskutieren und sich für deren Lösung einzusetzen.
Klar ist: Die Menschen wollen reden. Es gibt reichlich Bedarf, Raum und Zeit für Konfliktlösungsansätze mit einer tatsächlichen Beteiligung der jemenitischen Bevölkerung zu schaffen, damit ein nachhaltiger und gerechter Frieden gesichert werden kann. Es sind durchaus Wege vorstellbar, die sich nicht darauf beschränken, einem oder zwei Vertreter:innen der Zivilgesellschaft einen Platz am runden Tisch zuzugestehen, damit die Ansichten der Jemenitinnen und Jemeniten gehört und angemessen vertreten werden.
Vergessen wir nicht das Potenzial lokaler Gemeinschaften. Es lohnt sich, dort in Dialoge zu investieren, die einen Weg zur Versöhnung aufzeigen können. Damit könnte ein wichtiger Schritt in Richtung Stärkung des beschädigten sozialen Gefüges im Jemen gemacht werden.
Doch wo soll man anfangen? Gehen wir auf die Jemenitinnen und Jemeniten zu und schenken ihnen Gehör, um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, was sie in den letzten neun Jahren durchgemacht haben. Helfen wir ihnen, ihre Prioritäten zu formulieren, und finden wir heraus, was sie sich für ein Friedensszenario wünschen.
Es muss dringend eine Möglichkeit geschaffen werden, die ungehörten Stimmen der jemenitischen Bevölkerung an die Entscheidungsträger in ihrem Land und an die internationale Gemeinschaft heranzutragen. Wir müssen für die Mitwirkung und Beteiligung der Bevölkerung im Sinne einer echten Partizipation sorgen; nur so kann der Friedensprozess neu definiert und umfassend, ganzheitlich und realitätsbezogen ausgestaltet werden.
Indem wir die Wissenskluft zwischen den Menschen vor Ort und der Elite überbrücken, können wir dazu beitragen, dass ein künftiges Friedensabkommen tatsächlich erfolgreich sein wird. Und das ist es letztendlich, was die Menschen im Jemen wirklich wollen.
Hisham al-Omeisy ist ein jemenitischer Konfliktanalytiker und Senior Advisor beim European Institute of Peace.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von «The New Humanitarian» veröffentlicht. Dieses Informationsportal stellt unabhängigen Qualitätsjournalismus in den Dienst der Millionen von Menschen, die weltweit von humanitären Krisen betroffen sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.thenewhumanitarian.org. «The New Humanitarian» ist nicht für die Korrektheit der Übersetzung verantwortlich.
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