DIE SÜD-PERSPEKTIVE

Vom Bildschirm auf die Strasse

03.10.2024, Weitere Themen

Kann Online-Aktivismus in Offline-Konfliktmanagement umgemünzt werden? Digitale Technologien können nur dann zur Friedensförderung beitragen, wenn sie für die Konfliktparteien zugänglich, erschwinglich und nutzbar gemacht werden, sagt Medinat Malefakis.

Vom Bildschirm auf die Strasse

Digitale Mobilisierung, analoge Menschenmassen: Diesen Juni kippten Proteste in Nairobi und ganz Kenia geplante Steuererhöhungen. © Keystone/AFP/Patrick Meinhardt

Seit einigen Jahren prägen digitale Technologien die Art und Weise, wie Menschen interagieren, Gesellschaften sich wandeln und Konflikte entstehen. Sie erlangten zentrale Bedeutung in der Organisation sozialer Bewegungen, geben den Ausschlag, in welche Richtung sich wie auch immer geartete Konflikte entwickeln, und werden von aufständischen Gruppen von ISIS bis Al-Qaida für «Terropreneuring»-Kampagnen genutzt. Für demokratische und politische Bewegungen sowie für zivilgesellschaftlichen Aktivismus sind sie unabdingbar geworden. Das zeigte sich im arabischen Frühling im Nahen Osten und in Nordafrika, in der Black-Lives-Matter-Bewegung gegen Polizeigewalt in den USA oder auch in der Sensibilisierung für die Menschenrechtsverletzungen durch Regierungstruppen in der anhaltenden anglophonen Krise in Kamerun. Weitere Beispiele sind die weltweiten Solidaritätsbekundungen für die Ukraine oder die Aktivitäten in Bezug auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas: Stets spielten die sozialen Medien eine entscheidende Rolle.

Ebenso wie deren Aufkommen und Verbreitung hat sich auch der Einsatzbereich digitaler Technologien gewandelt. Ihr Demokratisierungspotenzial, die Zugänglichkeit und einfache Funktion als Schnittstellentool – es reicht ein Mobiltelefon und ein X-, Facebook- oder Instagram-Konto – sowie die physische Anonymität – macht die sozialen Medien für vielseitige Nutzungsarten und -zwecke attraktiv. So forderte in Nigeria eine Protestbewegung mehr Rechenschaftspflicht in Regierungsbereichen, was im Januar 2012 dazu führte, dass auf die Streichung geplanter Treibstoffsubventionen verzichtet wurde. 2024 zwangen kenianische Demonstrierende, angetrieben von der Generation Z, mit einer Mobilisierungswelle in den sozialen Medien die Regierung, eine Steuererhöhung rückgängig zu machen.

Vielerorts sind digitale Technologien und Social-Media-Plattformen auch zu Schauplätzen staatlicher Repression geworden, gegen die sich Bürgerinnen und Bürger zur Wehr setzen und ihre verfassungsmässig garantierten Grundrechte einfordern. In Ländern wie Nigeria wird online und offline gegen Proteste vorgegangen (#EndSARS-Proteste im Jahr 2020 und #EndBadGovernance-Proteste im Jahr 2024); repressive Regierungen schalten soziale Mediennetzwerke ab, um ihre Bürgerinnen und Bürger weiter einzuschränken. So geschehen zum Beispiel in Myanmar, Sudan und dem Iran, wo das Internet allein im Jahr 2021 mindestens fünf Mal abgeschaltet wurde.

Konflikte frühzeitig erkennen

Die digitalen Technologien liefern Informationen über bisher unbekannte Aspekte der Konfliktdynamik. Während der #ENDSARS-Proteste in Nigeria konnten dank der sozialen Medien polizeiliche Übergriffe dokumentiert werden. Nachdem die Ordnungskräfte mit Gewalt und Tränengas gegen Demonstrierende vorgegangen waren, lieferten Videos und Fotos auf den sozialen Medien wertvolle Beweise gegen die Versuche der Regierung, die Öffentlichkeit zu manipulieren und die Angriffe zu leugnen. Die Friedensbewegung bezieht aus solchen Aufzeichnungen die Rhetorik des Konfliktkontexts und kann die Konfliktdynamik besser analysieren. Dadurch können auf unterschiedliche Dynamiken angepasste friedensfördernde Ansätze ausgearbeitet werden. In Konfliktregionen wie Nigeria ist dies ein wesentlicher Faktor, um ethnische, religiöse und multigesellschaftliche Identitäten in die Friedensförderung zu einzubeziehen. Die von den digitalen Technologien bereitgestellten Informationen sind auch wichtig, um zu eruieren, wie sich Konflikte anbahnen und welchen Verlauf sie nehmen. Auf dieser Grundlage kann der genaue Zeitpunkt analysiert werden, in dem sich ein Konflikt von einem Austausch im digitalen Raum zu einem gewalttätigen Ausbruch offline wandelt. Die Analyse von Echokammer-Trends und Hashtags ermöglicht es, Kipp-Punkte in Online-Diskussionen, Hassreden, Spannungen zwischen Gruppen und Gemeinschaften, erhöhte emotionale Anfälligkeit oder gar Fake News zu erkennen und deeskalierend einzugreifen, bevor ein Offline-Chaos ausbricht.

Konfliktparteien zusammenführen

Im Fall der Proteste in Kenia wurde die Plattform X genutzt, um die Konfliktparteien (Demonstrierende und Präsident Ruto) zusammenzubringen. Es entstand eine direkte Interaktion, die in einigen Fragen zu einer schnellen Lösung führte. Das Zusammenbringen der Beteiligten über soziale Medien und digitale Technologien gestaltet diese Phase der Friedenskonsolidierung transparent, demokratisch und offen. So entsteht ein Austausch «auf Augenhöhe»: Die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure erhalten die Möglichkeit, ihre Narrative und Perspektiven auszutauschen, was Vertrauen und Zuversicht schafft.

In der Konfliktanalyse sind digitale Technologien neben dem Zusammenbringen von Akteur:innen auch für das Abbilden von Konversationen unerlässlich. Warum ist dies relevant? Im Konfliktkontext kommt es mitunter vor, dass Konversationen vom eigentlichen Konfliktthema abschweifen. In den sozialen Medien können «Peacebuilder» verfolgen, welcher Aspekt eines Konfliktkontexts bei den laufenden Konversationen im Vordergrund steht. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Twitter anlässlich der Massenentführung von Schülerinnen in Chibok (Nigeria). Damals wurde die Konversation über den Boko-Haram-Konflikt auf die «Bring-Back-Our-Girls»-Kampagne umgepolt. Ein weiteres Beispiel ist die Umlenkung der Diskussion über die Boko Haram auf Menschenrechtsverletzungen und aussergerichtliche Hinrichtungen durch das nigerianische Militär. Videoaufnahmen von Tötungen, Schlägen und Verstümmelungen, die von Sicherheitskräften an mutmasslichen Boko-Haram-Extremisten begangen wurden, verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Dies war von grosser Bedeutung, weil die aussergerichtlichen Tötungen in Gemeinschaften stattfanden, die direkt von Boko Haram betroffen sind und eine wichtige Interessengruppe in den nachfolgenden Vermittlungs- und Friedenskonsolidierungsprogrammen darstellten.

Wege hin zur Mediation

Um in den verschiedenen Phasen der Konfliktbearbeitung inklusive Gespräche zu ermöglichen, können Social-Media-Apps sehr hilfreich sein, zumal in den Gesprächsschleifen die Bereitschaft und Aufnahmefähigkeit der Konfliktparteien für Mediations- und Friedensprozesse erkennbar wird. Mediation und Friedenskonsolidierung mit Hilfe digitaler Technologien sind besonders in Konfliktregionen wichtig, in denen die Regierung in den Augen der Bevölkerung im digitalen Raum Hexenjagd betreibt oder in denen Internetabschaltungen weit verbreitet sind, wie in Myanmar, Äthiopien, Iran und Russland.

Friedenskonsolidierung mit Hilfe digitaler Technologien funktioniert aber nur dann, wenn diese Werkzeuge für die Konfliktakteure und Interessengruppen zugänglich, erschwinglich und nutzbar sind. Ausserdem müssen sich Mobilfunkbetreiber und Social-Media-Plattformen an den Grundsatz der Nichteinmischung halten und Microblogging-Anwendungen sensibel für die historischen Vorläufer von Konflikten sein.

 

Dr. Medinat Abdulazeez Malefakis

Dr. Medinat Abdulazeez Malefakis ist Senior Lecturer am Zentrum für Entwicklung und Zusammenarbeit (NADEL) der ETH Zürich und Nigeria Country Lead für den Global Survivors Fund.

Global Logo

global

Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.