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Verquer, unkoordiniert und inkohärent

05.10.2020, Klimagerechtigkeit

Die Klimakrise bedroht den Planeten. Das verlangt nach einer Politik, die über Landesgrenzen hinausdenkt und kurzsichtigen Eigennutz hintanstellt. Von einer kohärenten Klima(aussen)politik ist in Bern allerdings nichts zu spüren.

Verquer, unkoordiniert und inkohärent
Zwei Welten treffen aufeinander bei Afrikas grösstem Geothermiekraftwerk im Hells-Gate-Nationalpark in der Nähe des Naivashasees in Kenia.
© Pascal Maitre / Panos

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass Klimapolitik grenzüberschreitend angelegt sein muss. Doch in welchem Departement sollte diese angesiedelt sein? Im Umweltdepartement (UVEK), das für das (revidierte) CO2-Gesetz verantwortlich ist? Im Aussendepartement (EDA), weil das Pariser Klimaabkommen grenzüberschreitende Ziele und Pflichten definiert? Im Wirtschaftsdepartement (WBF), weil die Klimathematik im Kern mit Wirtschaft und Forschung zu tun hat? Gut positioniert wäre auch das Finanzdepartement (EFD), denn der Finanzplatz Schweiz verfügt über gewaltige Hebel, um in der Klimapolitik etwas zu bewegen. Es ist offensichtlich, dass der Klimakrise nur departementsübergreifend, ausserhalb herkömmlicher Denk- und Politikmuster, mit einer koordinierten Strategie begegnet werden kann. Doch in Bundesbern ist davon bisher nichts auszumachen.

Ein zentrales Problem der Schweizer Klimapolitik liegt in der (bewusst?) willkürlichen Handhabung der Landesgrenzen. Obschon allen klar ist, dass Treibhausgase keine Grenzen kennen, fokussiert die Politik bei der Bilanzierung von Treibhausgasen noch immer auf inländische Emissionen, will im neuen CO₂-Gesetze aber trotzdem CO₂-Emissionen im Ausland «kompensieren». Und es wird eifrig darüber debattiert, welche technischen Möglichkeiten es gäbe, CO₂ einzufangen und im Ausland zu «entsorgen». Die Schweizer Klimapolitik soll möglichst kostengünstig sein und – das ist der von der Klimastreikbewegung zu Recht scharf kritisierte realpolitische Konsens – weder unseren klimaschädigenden Lebensstandard in Frage stellen noch politische Verantwortung für den beträchtlichen Schweizer Klimafussabdruck jenseits der Grenze übernehmen.

Die meisten Gelder für internationale Klimapolitik werden derzeit im Aussendepartement mobilisiert, genauer aus dem Budget der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Das steht zunehmend in Konflikt mit dem Kernauftrag der Deza, vor Ort Armut und Ungleichheit zu bekämpfen. Globaler Klimaschutz ist zweifelsohne wichtig und dringend, kann aber nicht alleine Aufgabe der Deza sein und primär aus dem Entwicklungsbudget finanziert werden.

Zwei Beispiele, die illustrieren, wie verquer und unkoordiniert die Schweiz Klimapolitik ausserhalb der Landesgrenzen betreibt:

Industrieforschung aus Mitteln der Deza. Die Deza beteiligt sich an einem Forschungsprojekt des Privatsektors und der EPFL zu emissionsarmem Zement (Low Carbon Cement LCC), der in Indien, Kuba, Thailand, China und Brasilien produziert und getestet wird. Ob dies zu einem direkten Nutzen für die Ärmsten vor Ort führt, ist fraglich.

Entwicklungsprojekte beim Bundesamt für Umwelt (Bafu). Im Juli verkündete das Bafu stolz, dass in Peru 200’000 Öfen verteilt werden, «um den Verbrauch von Brennholz zu senken». Einen Fortschritt für jene , die nicht mehr in verrauchten Küchen ihre Gesundheit ruinieren müssen. In welchem Mass dadurch Emissionen reduziert werden, wird schwierig nachzuprüfen sein. Doch die Schweiz wird sich ein Minus an x Tonnen CO2-Emissionen in der Schweiz anrechnen lassen. Erstaunlich: Die Deza ist in das Projekt nicht involviert.

Fazit: Die Schweizer Klimapolitik ist, namentlich was ihre Ziele und Wirkung jenseits der Landesgrenzen angeht, beliebig und inkonsistent. Vom Ansatz bis zur Finanzierung und Wahl der Instrumente fördern verschiedene Bundesstellen weitgehend unkoordiniert und mit teilweise vertauschten Zuständigkeiten ihre je eigenen Programme. Nicht nur private und politische Akteure,[1] auch der Gesetzgeber handelt bei der Entwicklung des neuen CO₂-Gesetzes widersprüchlich und inkohärent.[2]

Eine umfassende, Klima(aussen)politik tut dringend Not! Die Schweiz muss aufzeigen, aus welchen Beweggründen, mit welchen Instrumenten sie unmittelbar oder über Dritte (z.B. den Green Climate Fund) global Emissionen reduzieren und Resilienz fördern will; und wie dabei Vorsorge- und Verursacherprinzipien konsequent eingehalten werden können. Dazu braucht es klare Rollenteilungen auf Basis von Kompetenzen und Kapazitäten des Bundes und der Wirtschaft unter Einbezug der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft.

 

[1] Die Grünen stellen in ihrem neuen «Klimaplan» hochtechnische Verfahren zur Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre und deren dauerhafte Speicherung ausser Landes zur Diskussion. Thermodynamisch betrachtet wird dies deutlich teurer zu stehen kommen als die vergleichsweise simple Abkehr von fossilen Energieträgern.

[2] Ausländische Treibhausgas-Reduktionen, die nicht an inländische angerechnet werden, sollen «möglichst den von der Schweiz im Ausland mitverursachten Emissionen entsprechen». Ob damit die vom Bundesamt für Statistik errechneten über 60% des Schweizer Klimafussabdruckes ausserhalb der Landesgrenzen gemeint sind, oder ob Klimafinanzierung künftig entlang den Zulieferketten von Schweizer Unternehmen eingesetzt werden soll, bleibt (absichtlich?) offen.

Ganzheitliche Klimabilanzierung für Unternehmen und Staaten

Der Speicherplatz für zusätzliche Treibhausgase in der Atmosphäre ist beschränkt. Eine lückenlose, den Zielen des Pariser Klimaabkommens verpflichtete staatliche Treibhausgas-Bilanzierung könnte sich an transnationalen Industriestandards orientieren, die unter dem Greenhouse Gas (GHG) Protocol zusammengefasst werden. Diese auf freiwilliger Basis angewendete Methodik basiert auf einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und schliesst bestehende Lücken in der internationalen Klimaberichterstattung.
Dabei werden Emissionen dreier «Reichweiten» erfasst:

  • Die sogenannten scope 1 & 2-Emissionen umfassen die durch ein Unternehmen direkt und indirekt (beispielsweise durch zugekaufte Energie) ausgestossenen Treibhausgase.
  • Bei scope 3 werden auch Emissionen mitberücksichtigt, die durch Zulieferer sowie durch die Verteilung, Nutzung und Entsorgung eigener Produkte anfallen.

Auf Staaten übertragen bedeutete dies, dass neben inländischen Emissionen auch Emissionen in die Bilanz aufgenommen werden müssten, die durch Produktion und den Transport von importierten Konsumgütern und Dienstleistungen im Ausland anfallen (sogenannte graue Emissionen).

Unter scope 3 müssten neben diesen sogenannt «Konsum-basierten» Emissionen auch Treibhausgase mitbilanziert werden, die multinationale Schweizer Unternehmen und deren Zulieferer ausserhalb der Landesgrenzen emittieren. Das umfasst namentlich auch Emissionen, die durch Investitionen entstehen, die über den Schweizer Finanzplatz abgewickelt wurden. Diese betragen notabene ein 22-faches der inländischen Emissionen.

Eine nationale Klimapolitik ist nur dann verantwortungsvoll und global gerecht, wenn sie auf dem nach scope 2 und 3 ermittelten CO2-Fussabdruck basiert. Dies spielt insbesondere für die Eingrenzung von inflationär, aber unscharf verwendeten Begriffen wie «netto Null» oder «klimaneutral» eine wichtige Rolle. JS