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So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne

24.06.2021, Finanzen und Steuern

Während dem globalen Süden im Kampf gegen die Pandemie Milliarden Impfdosen fehlen, verschieben Pharmakonzerne ihre exorbitanten Gewinne in Tiefsteuergebiete. Der Patentschutz ist auch ein Auswuchs des schweizerischen Steuernationalismus.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

So schützt die Schweiz ihre Pharmakonzerne

Die von der G7 im Juni beschlossene Mindeststeuer fällt global nicht ins Gewicht: Ob der Pharmasektor seine Gewinne in Europa oder Nordamerika versteuert, ist für die Länder des Südens sekundär.
© Keystone / Image Source

Nach einem Jahr Pandemie wurde in diesem Frühling klar: Die globale Pharmaindustrie gehört zu den grossen Corona-Gewinnerinnen. Das zeigen die aktuellen Geschäftszahlen und Gewinnprognosen vieler Pharmakonzerne. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Herstellern der Impfstoffe gegen Covid-19. So meldete Moderna kürzlich, dass man mit seinen Impfdosen in diesem Jahr einen Umsatz von 19,2 Milliarden Dollar erzielen werde. Pfizer gab 26 Milliarden an, BioNTech 15 Milliarden. Moderna verbuchte allein im ersten Quartal einen Reingewinn von 1,2 Milliarden Dollar, was einer Gewinnmarge von 65% entspricht. Dafür, dass die Impfstoffhersteller zu Beginn der Pandemie beteuert hatten, mit der Impfstoffherstellung keine Gewinnabsichten zu hegen, sind das erstaunliche Zahlen. Der Impfstoff aus diesem Haus ist denn momentan auch der teuerste auf dem Markt.

Bekommt die Pharmaindustrie mehr, als sie bezahlt?

Wenn man sich allerdings die Geschäftsmodelle der Pharmariesen genauer anschaut, ist die Überraschung schon weniger gross. Die NGO Public Eye hat diese kürzlich in einem ausführlichen Bericht («Big Pharma takes it all») analysiert. Ein zentrales Instrument zur Gewinnmaximierung der Pharmabranche ist die Patentierung der Wirkstoffe, die ihren Medikamenten zu Grunde liegen. Während allein im Jahr 2020 in die Forschung und Entwicklung dieser Wirkstoffe durch intensive Kooperationen mit Universitäten gemäss Public Eye weltweit öffentliche Gelder in der Höhe von 93 Milliarden Euro flossen, sollen die Patente dafür sorgen, dass von den Erlösen aus dem Medikamentenverkauf ausschliesslich jene Konzerne profitieren, die die Wirkstoffe (mit-)entwickelt haben. Dritte dürfen die Wirkstoffe ohne Lizenzkauf bei den Eigentümern nicht herstellen und auch nicht verkaufen. Durchgesetzt werden diese Regeln seit 25 Jahren im Rahmen des TRIPS-Abkommens über «handelsbezogene Aspekte geistiger Eigentumsrechte» (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights), das 1995 auf Druck der reichen Länder des Nordens und gegen den Willen der meisten Länder des Südens unterzeichnet wurde. Seither ist die Praxis der technologischen Nachahmung verboten. Spätestens in der Corona-Pandemie ist das TRIPS-Übereinkommen zum globalen Gesundheitsrisiko geworden: Der Patentschutz sorgt für eine künstliche Knappheit der Impfstoffe, treibt so die Preise in die Höhe und erschwert eine faire und möglichst effektive Verteilung in der ganzen Welt.

Das geht primär auf Kosten der Menschen in einkommensschwachen Ländern des globalen Südens, die sich keine private und teure Gesundheitsversorgung leisten können. Während in den reichen Ländern Nordamerikas und Europas gemäss dem Blog «Our World in Data» schon 58 bzw. 43 Impfungen pro hundert EinwohnerInnen verabreicht wurden, sind es in Afrika erst zwei. Asien und Südamerika liegen mit einer Quote von 18 bzw. 24 dazwischen. Aber auch die breite Bevölkerung in reichen Ländern zahlt für die Patente der Pharmaindustrie drauf: Sie leistet mit ihren Steuern nicht nur einen entscheidenden Beitrag zu deren Forschung und Entwicklung, sondern ist wegen der künstlichen Verknappung der Produktion vieler Medikamente mit höheren Kosten des gesamten Gesundheitswesens konfrontiert. Das Fazit von Public Eye stimmt in dieser Hinsicht sehr bedenklich: «Wie sehr die Entwicklung neuer Medikamente von öffentlichen Geldern abhängt, hat sich noch nie stärker gezeigt als in dieser Pandemie. Da dies in den Preisfestsetzungsmechanismen politisch ignoriert wird, zahlt die Bevölkerung gleich doppelt: Mit ihren Steuern subventioniert sie die Pharmakonzerne stark, gleichzeitig ist sie gezwungen, unregulierte und überhöhte Preise für Medikamente zu bezahlen und damit zu den kolossalen Gewinnen von Big Pharma beizutragen.»

Damit aber nicht genug: Die Bevölkerung alimentiert die Pharmaindustrie nicht nur mit ihren Steuern; den Konzernen gewährt das heutige internationale Konzernsteuersystem auch noch zahlreiche Vorteile zur Umgehung ihrer Steuerpflicht. Die Konzerne können ihre eigenen Steuern auf Gewinne aus geistigem Eigentum, aber auch aus anderen Formen von Unternehmensgewinnen, stark reduzieren, ohne dabei notwendigerweise geltendes Recht zu brechen. Diese Möglichkeiten sind aus der Sicht jener Länder, in denen die Pharmakonzerne ihre Sitze haben und finanzstarke Tochtergesellschaften betreiben, auch ein Wettbewerb um ihre globalen Gewinne. Vornehmlich kleine Länder des reichen Nordens ohne grosse Absatzmärkte für Medikamente locken Unternehmen durch möglichst günstige Konditionen für den Import von Patenten und eine tiefe Besteuerung von Gewinnen aus geistigem Eigentum an. Davon profitieren wiederum die Konzerne, die ihre Steuern nicht primär dort bezahlen müssen, wo sie durch die pharmazeutische Forschung und die Entwicklung neuer Wirkstoffe einerseits und den Verkauf ihrer patentierten Medikamente andererseits tatsächlich ihre Wertschöpfung erzielen, sondern dort, wo sie auf diese Gewinne am wenigsten Steuern bezahlen.

Tiefsteuergebiet für geistiges Eigentum

Die Schweiz mischt in diesem Verteilkampf um die Gewinne der multinationalen Konzerne intensiv mit. Gemessen an ihrer Bevölkerungszahl beherbergt sie von den 500 grössten Konzernen der Welt am meisten (14). Darunter die Basler Pharmariesen Novartis und Roche, die Nummer 3 und 4 im Ranking der grössten Pharmakonzerne der Welt und hinter sechs Rohstoffriesen und dem Nahrungsmittelkonzern Nestlé die Nummer 7 und 8 der grössten Firmen mit Hauptsitz in der Schweiz überhaupt. Ausserdem haben deren grosse Konkurrenten aus dem Ausland fast ausnahmslos Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen in der Schweiz. Gemäss der transnationalen Forschungsgruppe «Economists without Borders» um den kalifornisch-französischen Ökonomen Gabriel Zucman entzieht die Schweiz anderen Ländern jährlich Gewinnsteuersubstrat in der Höhe von 98 Milliarden Franken. Daraus resultieren Steuereinnahmen in der Höhe von 7,3 Milliarden Franken. Das heisst, dass 38% der Unternehmenssteuereinnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden aus Gewinnverschiebungen stammen. Diese 7,3 Milliarden Steuereinnahmen in der Schweiz entsprechen übrigens mehr als einem Drittel der gesamten Kosten, die in den 69 ärmsten Ländern der Welt insgesamt für deren Gesundheitswesen anfallen (19,7 Milliarden Dollar).

In dieser Rechnung sind allerdings mutmassliche Gewinnverschiebungen aus vielen afrikanischen und asiatischen Ländern gar nicht inbegriffen, weil dort die entsprechende Datenlage für solche ökonomischen Analysen oft zu schlecht ist. Angesichts der Tatsache, dass auch viele dort tätige Rohstoff- und Nahrungsmittelkonzerne ihre Handels- und Verwaltungseinheiten in der Schweiz stationiert haben, liegt die Vermutung nahe, dass auch aus diesen Ländern empfindliche Summen in die Schweiz verschoben werden. Wie Zucman und KollegInnen gezeigt haben, weisen die Unternehmensteile ausländischer Konzerne in der Schweiz im Vergleich zu ihren exorbitant hohen Gewinnen in der Regel eine erstaunlich tiefe Lohnsumme ihrer Mitarbeitenden aus. Verglichen mit einheimischen Firmen liegen ihre Gewinnmargen um ein Vielfaches höher. Damit liegt der Verdacht nahe, dass diese hohen Gewinne nicht in der Schweiz erarbeitet, sondern als Buchhaltungsgewinne in die Schweiz verschoben werden.

Bei diesen Gewinnverschiebungen machen sich die Konzerne Anomalien des heutigen internationalen Konzernsteuersystems zu Nutze. Dieses basiert auf dem sogenannten Fremdvergleichsgrundsatz (Arm’s lengths principle) und ist gleichzeitig seine zentrale Schwäche. Multinationale Konzerne werden so nicht als globale Einheit besteuert; das Steuerrecht behandelt jede einzelne Konzerneinheit immer noch als eigenständige Firma. Zwischen den einzelnen Konzerneinheiten in den verschiedenen Ländern finden allerdings tagtäglich unzählige Finanztransaktionen statt: im Zusammenhang mit Dienstleistungen, materiellen Gütern, Beteiligungsrechten, Darlehen und – für den Pharmasektor besonders relevant – eben auch immateriellen Gütern wie Marken, Lizenzen und Patente.

Zentral bei der Nutzung von Patenten als Steueroptimierungsvehikel ist der Umstand, dass Patente nicht unbedingt dort angemeldet und angesiedelt werden, wo die Erfindung, die sie schützen, auch entwickelt wurde, sondern dort, wo sich das auch steuertechnisch lohnt. Tochtergesellschaften ausländischer Pharmafirmen, die in Zug oder anderen Tiefsteuerkantonen angesiedelt sind, können so als Patenthalter auftreten und Lizenzen für die Nutzung dieser Patente an andere Gesellschaften des gleichen Konzerns vergeben.

Auffallend ist auch die atemberaubende Arbeitsproduktivität der Schweizer Pharmaindustrie: Gemäss dem Branchenverband Interpharma erzielt sie pro Arbeitsplatz fünfmal mehr Wertschöpfung als der gesamtwirtschaftliche Durchschnitt und liegt auch noch deutlich vor dem Finanzsektor an der Spitze. Welchen Anteil an dieser Wertschöpfung konzerninterne Lizenzzahlungen, Gebühren und Zinsen für bestimmte konzerninterne Dienstleistungen oder Kredite haben, weist Interpharma nicht aus, konstatiert aber stolz, dass zwei Drittel des gesamten Produktivitätswachstums der Schweizer Volkswirtschaft zwischen 2008 und 2018 dem Pharmasektor zu verdanken seien. Gleichzeitig beschäftigen sowohl Roche wie Novartis über 85% ihrer Angestellten im Ausland (Stand 2018).

«No borders no nations» für Patente

Es ist angesichts dieser Zahlen wenig erstaunlich, dass eine Mehrheit der Schweizer Politik speziell die Pharmaindustrie im Blick hat, wenn es darum geht, das Schweizer Konzernsteuermodell immer wieder mit den sich entwickelnden internationalen Regeln einerseits und den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft andererseits in Einklang zu bringen. So wurden mit der Einführung der letzten Unternehmenssteuerreform im Rahmen der STAF (Steuerreform und AHV-Finanzierung) ab 2020 die alten, auch für die Pharma wichtigen, international aber nicht mehr akzeptierten Steuerprivilegien für Holding-, Domizil- und gemischte Gesellschaften durch neue ersetzt, die den aktuellen Besteuerungsregeln der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die in diesem Gebiet die massgebende multilaterale Organisation ist) entsprechen. In der STAF wurden vor allem zwei neue Steueroptimierungsvehikel auf die Bedürfnisse der Pharmabranche ausgerichtet, einerseits der Abzug auf Forschung&Entwicklung (F&E-Abzug) und andererseits die Patentbox. Beide Vehikel ermöglichen eine Reduktion der sogenannten Bemessungsgrundlage für den steuerbaren Gewinn eines Unternehmens, also eine Reduktion des Gewinnanteils, der überhaupt versteuert werden muss. Dadurch reduziert sich der effektive Steuersatz auf den Gewinn eines Konzerns, der sich aus der Kombination der Bemessungsgrundlage und des gesetzlich festgeschriebenen Steuersatzes ergibt. Während der F&E-Abzug am Beginn der Wirkstoffproduktion ansetzt, tut das die Patentbox am Ende: Ersterer erlaubt den Abzug der Kosten für F&E von Gewinnen, die aus Produkten stammen, die auf die entsprechenden F&E-Investitionen zurückgehen. Zweitere erlaubt zu einem gewissen Prozentsatz (je nach Kanton verschieden) den Abzug von Gewinnen, die auf eine für die Patentbox qualifizierende Erfindung zurückgehen, vom gesamten steuerbaren Gewinn. De jure würden sich in der Schweiz nur Gewinne auf patentierten Erfindungen für die Patentbox qualifizieren, die auch in der Schweiz entwickelt wurden. De facto erweist sich die exakte Zuordnung einer bestimmten Innovation oder Erfindung zu einem bestimmten Forschungsstandort als schwierig – unter anderem auch deswegen, weil Patente nicht dort angemeldet und gehalten werden müssen, wo die Erfindung entwickelt wurde. Dasselbe gilt wiederum auch für die Allokation der Kosten im Bereich F&E.

Die Pharmakonzerne können also ihr Patentmanagement ganz legal zur Steuerreduktion einsetzen. Erneut ist es die Firma, die gewinnt, und die öffentliche Hand, die verliert. Das zeigt die zentrale Bedeutung, die Patente für die Geschäftsmodelle der Pharmakonzerne haben. Es zeigt aber auch die zentrale Bedeutung der Patente für das Geschäftsmodell des Schweizer Fiskus: Die sich daraus ergebenden Tiefsteuerregime sollen – so das standortpolitische Kalkül – Anreize für die Konzerne schaffen, möglichst viele ihrer globalen Gewinne in der Schweiz zu verbuchen. Obwohl die Steuersätze hier geringer sind, soll angesichts der hohen Gewinnsummen, die dann in der Schweiz versteuert werden müssen, am Ende auch mehr für den Schweizer Fiskus herausspringen. Diese steuerpolitische Bedeutung des geistigen Eigentums mag auch teilweise erklären, weshalb sich der Bundesrat vehement gegen die vorübergehende Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Impfstoffen einsetzt. Dies obwohl mittlerweile sogar die US-Regierung und die EU-Kommission damit einverstanden sind, um die Produktion der Impfstoffe anzukurbeln und ärmeren Ländern so einen besseren Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen.

In einem Interview mit der «Financial Times» beschwört Roche-Chef Severin Schwan eine Verstaatlichung der Pharmafirmen wie in der DDR und bekämpft einen Präzedenzfall, der eine generelle Aufweichung der jetzigen, sehr restriktiven Politik zum geistigen Eigentum sowie Verluste für den Fiskus gewisser Kantone und des Bundes zur Folge hätte. Die Leidtragenden dieses Steuernationalismus sind aber einmal mehr die Menschen im globalen Süden, die so noch länger auf ihre Covid-Impfung warten müssen und notabene auf eine funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen sind. Genau diese untergraben auch Pharmakonzerne, wenn sie Gewinne dort abziehen und in Tiefsteuergebiete wie die Schweiz verschieben.