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Der Privatsektor – ein Blender
09.12.2019, Finanzen und Steuern
Mit der Privatisierung der Entwicklungsfinanzierung drohen entscheidende steuer- und finanzpolitische Fragen ausgeblendet zu werden. Bleibt es dabei, ist die Umsetzung der Agenda 2030 hierzulande entwicklungspolitisch tot.
Ein Phantasma geht um in der internationalen Entwicklungsgemeinschaft. Es geht um die Idee, gleichzeitig den Renditeinteressen von KapitalgeberInnen und jenen der Allgemeinheit dienen zu können. Neu ist dieses Phantasma nicht. Nicht zuletzt in den reichen OECD-Staaten des Nordens hat es sich seit der neoliberalen Wende ab Mitte der 1970er als sehr einseitig produktiv erwiesen: Nicht nur die Bruttoinlandprodukte wuchsen stark, sondern auch die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Neue Niedriglohnsektoren entstanden, die sozialen Sicherungssysteme und der Service Public wurden geschwächt. Eine zunehmend ratlose Politik und eine sehr volatile Wirtschaft werden mit immer drängenderen Fragen zu ihrer gesellschaftlichen Existenzberechtigung konfrontiert.
Diesen drohenden Abgründen zum Trotz wird gegenwärtig auf vielen Ebenen versucht, die Privatisierung der Finanzierung der Agenda 2030 der UNO voranzutreiben. Exemplarisch zeigt sich das auch in der Schweiz. Gemeinsam mit seinen SVP-Kollegen im Bundesrat versucht der kaum im Amt angekommene Aussenminister Ignazio Cassis eine Aussenwirtschaftspolitik voranzutreiben, die eine menschenrechtlich und wirtschaftspolitisch kohärente Entwicklungspolitik auf ein Werkzeug der Schweizer Exportförderung und der Migrationsabwehr zu reduzieren droht. Dabei scheint vergessen zu gehen, dass der Privatsektor nur ein Instrument der Entwicklungsfinanzierung unter mehreren ist. So jedenfalls war es 2015 an der dritten UNO-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung von den UNO-Mitgliedsstaaten in der Addis Abeba Action Agenda (AAAA) beschlossen worden. Mindestens genau so zentral sind die Mobilisierung von Steuergeldern für starke öffentliche Dienste und die Mittel der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit.
Überschätzte Auslandsinvestitionen
Kommt dazu, dass der Einfluss ausländischer Direktinvestitionen auf das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern – so wie diese gemäss den Kategorien der Weltbank definiert werden – in der gegenwärtigen Debatte in der Regel massiv überschätzt wird: Private Investitionen generieren in den Ländern des Südens 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das geht aus einem letztjährigen Bericht hervor (Financing for Development and the SDGs), den Eurodad, das europäische Netzwerk zu Schulden und Entwicklung, publiziert hat. Allerdings gehen von diesen 25 nur höchstens drei Prozent auf das Konto ausländischer Direktinvestitionen; die restlichen 22 Prozent werden von der einheimischen Wirtschaft und öffentlichen Entwicklungsbanken generiert. Sollte die Entwicklungsfinanzierung durch die Schweiz auf die möglichst effiziente Mobilisierung ausländischer Direktinvestitionen reduziert werden, werden die Uno-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Agenda 2030 unerreichbar bleiben. Denn erstens werden so Mittel aus der öffentlichen Schweizer Entwicklungszusammenarbeit abgezogen und in den Privatsektor gesteckt. Und zweitens laufen lokale Unternehmen in den Ländern des Südens Gefahr, von Schweizer Unternehmen konkurrenziert zu werden. Für die dortige Wirtschaft und die Schaffung von guten Arbeitsplätzen und Wohlstand sind lokal geschaffene und verankerte Arbeitsplätze aber erwiesenermassen viel wichtiger als solche, die von ausländischen Direktinvestitionen abhängen.
Der gegenwärtige Nachdruck für die Idee, private Profitinteressen in die Entwicklungsfinanzierung zu integrieren, verdrängt auch systemische Fragen zu den wirtschaftspolitischen Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung: Gemäss eines Berichts der Inter-Agency Task Force on Financing for Development der UNO von 2018 sind Steuergelder unverzichtbar, um grundlegende öffentliche Dienste und wenigstens eine minimale soziale Sicherung zu gewährleisten; sie sind darüber hinaus auch für drei Viertel aller Investitionen in die Infrastruktur in Entwicklungsländern verantwortlich. Aus einem einfachen Grund: Viele Infrastrukturinvestitionen können gar nicht profitabel sein. So liegt die Quote privater Investitionen in die hochgelobte neue Infrastruktur in China – dem unangefochtenen Entwicklungschampion der letzten dreissig Jahre – annähernd bei null. Bekanntlich sind aber gerade gute und verlässliche Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsinfrastrukturen eine Voraussetzung dafür, dass Unternehmen produktiv arbeiten können. Ohne die Finanzkraft einer entschlossenen öffentlichen Hand kommen diese jedoch gar nicht auf Touren. Obwohl private Investitionen für Entwicklung unbestritten zentral sind, ist es eine Illusion zu meinen, dass der Privatsektor den Staat als wesentlichen Entwicklungstreiber ablösen kann. Vielmehr ist ersterer auf letzteren entscheidend angewiesen.
Umso verheerender ist es, dass sich der Bundesrat im Rahmen der neuen Botschaft für internationale Zusammenarbeit (2021-2024) kaum für die Dysfunktionalitäten im internationalen Steuer- und Finanzsystem interessiert – vor allem nicht für die Herkunft der wirtschaftlichen Wertschöpfung, aus der die Schweiz einen wesentlichen Teil ihres Wohlstandes generiert. Sie bleibt der weltweit grösste offshore Finanzplatz, zieht mit ihrer Tiefsteuerstrategie multinationale Konzerne an und bekämpft Geldwäscherei nach wie vor zu wenig konsequent. Dabei gingen alleine 28 Prozent der Schweizer Unternehmenssteuereinnahmen, so schätzten Ökonomen um den Franzosen Gabriel Zucman kürzlich, auf Gewinne zurück, die anderswo erwirtschaftet wurden. Mindestens 73 Milliarden Dollar an steuerbaren Unternehmensgewinnen entzieht die Schweiz so der Welt. Von der Steuerflucht natürlicher Personen aus armen Entwicklungsländern, die ihr Geld in transnationalen Offshorestrukturen verstecken, die sehr oft von der Schweiz aus verwaltet werden, war dabei noch gar nicht die Rede. Hier geht es um Billionen.
Weltweite Proteste nehmen zu
Dass nachhaltige Entwicklung, die auch demokratisch abgestützt ist, ohne finanziell gut dotierte Rechtsstaaten nicht geht, zeigen die Massenproteste in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern der letzten Jahre rund um den Globus: In Tunesien lösten 2011 Perspektivlosigkeit und eine drohende Hungerkrise in der ländlichen ArbeiterInnenschicht den arabischen Frühling aus. Ärmere TunesierInnen konnten sich auf Grund einer stetigen Erhöhung der Mehrwertsteuer lebensnotwendige Güter kaum mehr leisten. Mit den Erhöhungen der Konsumsteuer hatte der tunesische Staat versucht, mangelnde Erträge bei Unternehmenssteuern zu kompensieren und die Schuldenfinanzierung beim Internationalen Währungsfonds zu gewährleisten. In Brasilien stand 2014 die Erhöhung von Ticketpreisen im öffentlichen Nahverkehr am Beginn massiver sozialer Unruhen, ebenso aktuell in Chile. Im Libanon und im Irak protestieren die Menschen ebenfalls gegen Misswirtschaft und die Kleptokratie der Privilegierten – im Irak oft auch unter Einsatz ihres Lebens.
Das zeigt: Will die Schweiz in ihren Partnerländern die lokale Wirtschaft fördern und Bemühungen um eine friedliche und demokratische Gesellschaft stärken, so muss sie zu allererst bei sich selbst ansetzen: Sie muss das Geschäftsmodell ihres Finanz- und Konzernplatzes überwinden, das auf der Aneignung von Wohlstand basiert, der anderswo erarbeitet wurde. Sie muss also eine Politik entwickeln, die den gesellschaftlichen Schaden reduziert, den die Schaffung unseres Wohlstands in anderen Ländern produziert. Die Zeit drängt: In zehn Jahren schreiben wir bereits das Jahr 2030.