Hinter den Schlagzeilen

Das vermeintliche Paradies

28.06.2024, Weitere Themen

Türkisfarbenes, kristallklares Wasser, weisser Sand und Palmen, keine Sandflöhe, dafür Stachel-, Adlerrochen und Ammenhaie, die elegant durchs Wasser gleiten: Cayo Albuquerque ist wunderschön, aber auch ein Umschlagplatz für Menschen und Kokain.

Das vermeintliche Paradies

Auf zwei winzigen Inseln vor Nicaraguas Küste tummeln sich neben Fischern auch Küstenwache, kolumbianische Soldaten und Menschen auf der Flucht in den Norden. © Karin Wenger

Die Reise von Panama in die Bahamas dauert mit dem Segelboot ungefähr zehn Tage. Für uns ist sie nach 18 Stunden bereits zu Ende. Mitten in der Nacht, bei rauer See, entdecken wir, dass Meerwasser ins Boot eindringt. Wir müssen notankern, um das Leck zu finden und zu beheben. Das nächste Land liegt fast so weit weg wie Panama. Es ist ein winziges Atoll mit zwei Inseln und heisst Cayo Albuquerque. Auf den ersten Blick ein Paradies. Das Atoll ist kolumbianisches Staatsgebiet, obwohl es viel näher an Nicaragua als an Kolumbien liegt. Es gibt hier zwei Inseln, die so klein sind, dass man sie in zehn Minuten umrundet hat. Auf der einen Insel wohnen kolumbianische Soldaten. Sie kommen vom Festland, sind jung und manche sehen zum ersten Mal das Meer. Ihre Aufgabe ist es zu verhindern, dass Nicaraguaner:innen die Inseln erobern und dass die Inseln nicht zum Umschlagplatz für Menschen und Kokain werden. Bloss: Die Soldaten haben zwar Internet, Strom und Funk, aber kein Boot. Sie sind sozusagen Gefangene auf ihrer eigenen Insel. Vor der zweiten Insel liegen die kleinen Boote der Fischer. Diese kommen von der nahe gelegenen und grösseren Insel San Andrés und bleiben so lange im Atoll, bis sie mit genügend Thunfisch, Barracudas, Makrelen und Lobster zurückfahren können. Auf ihrer Insel gibt es weder Strom noch Wasser, doch Boote mit denen manche nicht nur Fisch transportieren.

Als wir zwischen den zwei Inseln Anker werfen, sind wir erschöpft und erleichtert. Wir haben es geschafft, sind nicht untergangen. Bald finden wir das Leck zwischen Anker- und Segelkasten und Kabine und flicken es. Doch dann sehen wir ein nächstes Problem: Das Wellenlager ist lose. Das Boot muss aus dem Wasser, den Motor sollten wir nicht mehr gebrauchen. Wir müssen zurück nach Panama segeln – bloss, Wind gibt es keinen, drei Wochen lang nicht. So liegen wir hier vor Anker und merken bald, dass dieser unbekannte Fleck Erde für uns ein Paradies sein mag, für andere ist er eine Zwischen¬station auf einem Höllenritt.

 

Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Natürlich haben wir geteilt.

Brinell Archbold, Fischer

 

«Hier und hier und hier sassen sie und warteten. Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Sie bettelten um Wasser und Nahrung. Natürlich haben wir geteilt», erzählt Brinell Archbold, einer der Fischer. Er zeigt auf das Palmenwäldchen, in dem leere Dosen und anderer Müll zwischen Gestrüpp liegt. Sie, das sind Flüchtlinge auf dem Weg in den Norden, Ziel: USA. Die meisten kommen aus Venezuela. Fast acht Millionen Venezolaner:innen haben seit 2014 auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der UNO ist es der grösste Exodus in Südamerikas jüngster Geschichte und eine der schlimmsten Flüchtlingskrisen der Welt (siehe dazu global #90). Um den gefährlichen Darién-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama zu umgehen und Panama und Costa Rica zu überspringen, fliegen sie vom kolumbianischen Festland auf die Insel San Andrés. Hier werden sie von Fischern abgeholt und zum Cayo Albuquerque gebracht und dann von Nicaraguaner:innen weiter Richtung Norden transportiert. «Manche Schlepper versprechen den Flüchtlingen, dass sie sie nach Mexiko oder in die Bahamas bringen, doch dann transportieren sie sie nach Albuquerque, um Sprit zu sparen und lassen sie hier gestrandet zurück», sagt Daniel Acosta von der Küstenwache, als diese eines Tages im Atoll erscheint, um unser Boot zu durchsuchen. Später besuchen die Männer auch die Fischerinsel, finden illegale Nicaraguaner:innen, aber lassen sie ziehen. Ein Boot voller Kokain scheint sie mehr zu interessieren als eines mit Flüchtlingen. Es verstreichen nur wenige Tage und sie finden, wenige Meilen von Albuquerque entfernt, was sie suchen: ein schnelles, kleines Boot mit 3,3 Tonnen Kokain.

 

Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu
sein. Ich bin selbst vor FARC und
Paramilitärs geflohen.

Lokaler Fischer auf Cayo Albuquerque

 

«Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Ich bin selbst vor der FARC und den Paramilitärs geflohen», erzählt ein alter Fischer, mit dem ich einen Tag lang auf seinem wackeligen Boot auf dem Meer fischen gehe. Der Fischer war vor dreissig Jahren selbst geflohen, als die FARC und die Paramilitärs Dutzende von Männern in seinem Dorf im Hochland umgebracht hatten. Seither arbeitet er als Fischer, obwohl er nicht schwimmen kann. Überfischung habe die Fischbestände und sein Einkommen reduziert. «Früher haben wir in einem Tag so viel gefangen wie heute in einer Woche.» Deshalb suchte er nach einem Zusatzeinkommen und wurde Schlepper. Für einen Flüchtlingstransport von San Andrés nach Albuquerque bekam er 400 US-Dollar von den Auftraggebern. Mehrere Male ging alles gut; dann, als er 14 Venezolaner an Bord seines kleinen Bootes hatte, fiel der Motor aus und sprang nicht mehr an. «Wir hatten kein Essen und wenig Wasser dabei. Ich sagte: ‘Die Kinder haben Priorität, sie bekommen ein halbes Glas Wasser am Tag, wir Erwachsenen eine Verschlusskappe voll, um den Mund zu netzen.’» Fünf Tage trieben sie so dahin. Am Ende rettete sie die Strömung, die sie direkt auf die Küste Nicaraguas zutrieb. Dort verschwanden die Flüchtlinge und suchten sich ihren eigenen Weg. Andere haben weniger Glück. Im Oktober 2023 verschwand ein Flüchtlingsboot auf dem Weg von San Andrés nach Nicaragua. Von den 35 Venezolaner:innen fehlt bis heute jede Spur. Nachdem der Fischer in Nicaragua an den Strand gespült worden war, wurde er nach San Andrés zurückgebracht. Seither transportiert er keine Flüchtlinge mehr.

 

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Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.

Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

© Karin Wenger

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