Hinter den Schlagzeilen

Auf dem Lastwagenpneu in eine ungewisse Zukunft

02.10.2023, Weitere Themen

Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch viele Kubanerinnen und Kubaner machen dafür nicht das US-Embargo oder die Folgen der Pandemie verantwortlich, sondern ihre eigene Regierung.

Auf dem Lastwagenpneu in eine ungewisse Zukunft

© Karin Wenger

von Karin Wenger

Als wir uns an einem frühen Morgen Anfang Mai Kuba nähern, staunen wir: Männer treiben in grossen Lastwagenpneus durch die Bucht vor Santiago de Cuba, in der einen Hand eine Fischerleine, in der anderen ein kleines Paddel. «Für uns Kubaner gibt es seit Wochen keinen Treibstoff mehr, deshalb können die Fischer nicht auslaufen, die Strassen sind leer und wir haben kaum Gas zum Kochen», sagt Norbert, der Hafenmeister der staatlichen Marlin Marina, nachdem wir unser Segelboot am stark lädierten Pier festgemacht haben. Bislang erhielt Kuba von Venezuela Treibstoff; da Venezuela nun selbst am Rande des ökonomischen Kollapses steht, schickt es keinen mehr, was seit Mitte April zu einer akuten Treibstoffkrise führt. Doch in Kuba mangelt es nicht nur an Treibstoff, wie wir bald merken: In der Marina ist der kleine Einkaufsladen geschlossen, in den Duschen und Klos fliesst kein Wasser und auf dem lokalen Markt von Santiago de Cuba finden wir lediglich ein bisschen Kohl, ein paar Tomaten, Auberginen und Papaya und einen Mann, der sein dünnes Schwein zum Kauf anbietet. Das wenige, das man kaufen kann, ist zudem teuer, denn zur Knappheit kommt eine steigende Inflation.

Der Traum vom besseren Leben

Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre. Das Wirtschaftsembargo der USA, das seit 1960, also zwei Jahre nach der Machtübernahme von Fidel Castro, in Kraft getreten ist, ist ein Grund dafür. Die Pandemie ein anderer. Die wichtigen Einnahmen aus dem Tourismus fehlen seither und auch nach Ende der Pandemie sind nur wenige Tourist:innen auf die Karibikinsel zurückgekehrt. Doch die Gründe sind auch hausgemacht.

«Wenn ihr Geld wechseln wollt, geht nicht zur Bank, sondern zu Pochito», rät uns Hafenmeister Norbert und so erhalten wir schon wenig später ein Anschauungsbeispiel zu Inflation. Pochito ist ein junger Kubaner, der auch ein Auto vermitteln, eine SIM-Karte organisieren und Geld zu einem besseren Kurs wechseln kann. Im Mai gibt es auf der Bank in Kuba zum offiziellen Wechselkurs 120 kubanische Pesos für einen US-Dollar, auf dem Schwarzmarkt variiert der Kurs zwischen 140 und 200 Pesos. Da es Kubaner:innen nicht erlaubt ist, ein ausländisches Boot zu betreten, wartet Pochito ausserhalb der Marina auf ausländische Kundschaft. Er bietet uns 160 Pesos für einen US-Dollar, macht 80'000 Pesos für die 500 US-Dollar, die wir wechseln wollen. Das Geld soll ein Freund von Pochito in der nahen Stadt organisieren, was eine halbe Stunde dauere, Zeit für ein Schwätzchen.

Pochito erzählt, dass seine Schwester einen griechischen Segler geheiratet habe, der ebenfalls mit seinem Boot in Santiago de Cuba vorbeigekommen sei. Der Grieche sei zwar viel älter als seine Schwester, aber zumindest sei sie so aus Kuba weggekommen und das wollten schliesslich alle. Denn wer wolle in einem Land leben, in dem es nichts zu kaufen und keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe? Einer seiner Freunde lebe nun in Miami, sagt Pochito und ruft ihn sofort an. Der Freund erscheint als wackliges Handy-Bild und erzählt, wie er zuerst nach Nicaragua, eines der wenigen Länder, in die Kubaner ohne Visa einreisen können, geflogen sei. Dort habe er einen Schlepper angeheuert, dem er 9000 US-Dollar zahlte, mit der Hoffnung, dass er ihn bis in die USA bringen würde. In Mexiko jedoch sei er von einer kriminellen Gang gefangen genommen worden, die ihn erst gehen liess, nachdem sie noch mehr Geld von ihm und seinen Verwandten erpresst hatte. Nun ist er in Miami, arbeitet auf dem Bau und zahlt seine Schulden zurück.

Leere Regale

Die zwanzig Minuten sind inzwischen vorbei, doch der Geldwechsler lässt auf sich warten. Er müsse das Geld zuerst zählen und das dauere, lässt er ausrichten. Nun gesellen sich Pochitos Mutter und einer seiner Freunde, ein Fischer, zu uns. Der Fischer fährt wegen der Dieselknappheit zurzeit jedoch nicht aufs Meer. «Vor einigen Wochen wollte einer aus dem Dorf mit seinem kleinen, selbstgebauten Kahn übers Meer fliehen. Er wurde nie mehr gesehen, wahrscheinlich hat ihn das Meer verschluckt, wie so viele», sagt er, der eine solche Flucht nie selbst wagen würde, weil er wisse, wie brutal das Meer sein könne. Pochitos Mutter hebt die Faust und schimpft laut: «Hunger leiden die Menschen hier, weil wir uns nicht einmal mehr Reis oder Eier leisten können!» Jeder Kubaner und jede Kubanerin erhalte zwar monatlich eine Quote verbilligter Grundnahrungsmittel wie Öl, Reis, Zucker oder Mehl, aber die Menge reiche nirgends hin. Ein halber Liter Speiseöl pro Monat und Person für 50 Pesos muss reichen; wer mehr braucht, muss es zu einem viel höheren Preis in den Läden oder von jemandem, der sein Speiseöl am Strassenrand feilbietet, kaufen. Dann kostet es 1000 Pesos.

Gemüse und Früchte gibt es kaum zu kaufen, und das, obwohl die Insel mit nährstoffreichem Boden und viel Regen gesegnet ist. Wie ist das möglich? Weil es an Düngemittel, Werkzeugen und einem funktionierenden Distributionssystem fehlt. So manche Frucht und so manches Gemüse verrotten noch auf dem Bauernhof, weil die Bauern ihre Ernte nicht rechtzeitig zu den Käufern bringen können oder weil es der Transportfirma an den nötigen Kisten oder den nötigen Ersatzteilen für den Lastwagen fehlt. Wieso also noch etwas anbauen? Während auf Märkten kaum Früchte oder Gemüse angeboten werden, sind die Regale in den «Panamericana», den Regierungsläden, voll mit Rum und Büchsen; sogar einen Kärcher-Staubsauger oder eine Mikrowelle gibt es hier. In den «Panamericana» kann man jedoch nur mit Kreditkarte oder US-Dollar bezahlen, die meisten Kubaner haben weder das eine noch das andere.

Wut auf die Regierung

Für die wirtschaftliche Notlage, in der sich so viele Kubanerinnen und Kubaner heute befinden, machen Pochito, seine Mutter und ihr Freund, der Fischer, nicht das US-Embargo oder die Pandemie verantwortlich, sondern die eigene Regierung. «Unsere Regierung ist grauenhaft und schlecht, Diebe sind das. Für sich und ihre Kinder haben sie alles. Sie schicken sie auf gute Schulen, in die besten Spitäler, und wir?», fragt die Mutter, deren kranker Mann vor einem Jahr gestorben ist, weil es im Spital an Medikamenten, Spritzen und Operationsmaterial fehlte. Pochito zieht sein Handy hervor und spielt ein Video ab. Zuerst sieht man Demonstranten, die Parolen gegen die Regierung skandieren, dann erscheint ein Polizist, der einem Demonstranten aus nächster Nähe in den Bauch schiesst. Das Video wurde bei einer der Demonstrationen, die vor zwei Jahren in Kuba stattfanden, aufgenommen. Es waren die grössten Unruhen seit Jahrzehnten und die Wut richtete sich gegen die Regierung, die es nicht schafft, genügend Lebensmittel und Medikamente bereitzustellen. Doch die Regierung reagierte nicht mit radikalen politischen und wirtschaftlichen Reformen, sondern mit Repression. Mehr als tausend Demonstrierende wurden damals festgenommen und zum Teil zu Jjahrzehntelangen Gefängnisstrafen verurteilt. «Sie hassen uns und wir hassen sie», sagt der Fischer.

Dass viele Kubanerinnen und Kubaner heute trotz der Repression so unverblümt über ihre Regierung schimpfen und es immer wieder zu kleineren Demonstrationen kommt, zeigt, wie hoch die Frustration und wie schlecht die Situation weiterhin ist. Die sozialistische Planwirtschaft ist gescheitert, nur scheint man das in der alten Garde, die weiterhin an der Macht sitzt, auch nach Fidels Tod nicht einsehen zu wollen. Den Preis dafür zahlt das Volk. Trotzdem plant die Schweiz just jetzt, ihre langjährige bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Kuba zu beenden. Dies geschieht gemäss dem Entscheid des schweizerischen Parlaments von 2020, die bilateralen Mittel für Lateinamerika bis 2024 schrittweise auf die Regionen Nordafrika, Mittlerer Osten und Subsahara-Afrika zu verlagern. Sieht man die tiefe Krise und die Notlage der Bevölkerung auf Kuba, fragt man sich, ob dies der richtige Zeitpunkt ist.

Eine Unterhose voller Geld

Endlich, nach zwei Stunden erscheint der Geldwechsler mit den Pesos und sofort verstehe ich, wieso das Geldzählen so lange gedauert hat. Da er keine grossen Scheine auftreiben konnte, überreicht er uns die 80'000 Pesos in 50-Peso-Scheinen, ein grosser Haufen, eingepackt in eine alte Unterhose. Mit den Pesos kaufen wir Diesel für uns und für Pochito, den Fischer und Norbert. Denn während es für Kubanerinnen und Kubaner keinen Treibstoff gibt, erhalten ausländische Tourist:innen so viel sie wollen. Dabei variiert der Preis je nachdem, ob man in Pesos oder US-Dollar zahlt. Bezahlt man in Pesos, kosten 100 Liter umgerechnet 18 US-Dollar, zahlt man in US-Dollar, kostet jeder Liter einen US-Dollar. Vieles macht in Kuba keinen Sinn.

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© Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com