Meinung

Ein neues «Afrika»

01.10.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die Menschheit ist abgestumpft von den unzähligen weltumspannenden Notlagen, die durch einen allgemeinen Mangel an Leadership sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor noch verschärft werden. Kommt der Weckruf aus «Afrika»?

Ein neues «Afrika»

Die Co-Präsidentin des Club of Rome und Mitgründerin von Reimagine SA, Mamphela Ramphele, skizziert in diesem Text, wie Afrika (und die Welt) in 50 Jahren aussehen könnte.
© Mamphela Ramphele

Wissenschaftliche Kenntnisse vermögen der Gesellschaft nicht zu einem neuen Menschsein zu verhelfen. Eine solche Transformation erfordert viel Selbstreflexion: Sie bedingt die Bereitschaft, uns von unserem extraktiven Wertesystem abzuwenden und mit der Natur neu zu lernen, dass wir Teil eines eng verknüpften und wechselseitig funktionierenden Lebensnetzes sind. Indigene Kulturen auf der ganzen Welt lehren uns, dass wir unsere Wurzeln wiederentdecken und im Rhythmus der Weisheit der Natur leben müssen. Die Rückkehr zum Ursprung würde es der Menschheit ermöglichen, mit einer neuen menschlichen Zivilisation aus diesen Notlagen heraus zu treten – einer Zivilisation, die mit der Natur im Einklang steht.

Junge Menschen auf der ganzen Welt sind heute bereit, angesichts des Versagens der älteren Generation und führenden Eliten eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Weltweite Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, Rainbow Warriors und Avaaz haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Zukunft zu gestalten, die sie sich herbeisehnen.

Auch in Afrika nutzen junge Menschen die Chance, sich die Weisheit ihrer Vorfahren zu eigen zu machen. Die Weisheit Afrikas liegt in der Fülle des Kontinents – es ist genug für alle da, wenn wir es nur gerecht aufteilen. Das Ubuntu-Wertesystem beruht darauf, dass alle am Wohlstand teilhaben, der durch gemeinschaftliche Arbeit erwirtschaftet wurde. Ubuntu kennt keine Trittbrettfahrer.

Die meisten der über 600 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner im Alter von 15 bis 49 Jahren entwickeln innovative Lösungen für die vielfältigen Herausforderungen, mit denen sie – in den unterschiedlichsten Kontexten – konfrontiert sind. Sie schaffen aus der knappen Verfügbarkeit alter Technologien in den Bereichen Telekommunikation und Finanzdienstleistungen eine Fülle an Möglichkeiten. Mobiltelefone und Online-Finanzdienste nutzen den jährlichen Fluss an Auslandüberweisungen (schätzungsweise 44 Mrd. USD), um günstigere und zuverlässigere Verbindungen zwischen der Diaspora und der Heimat herzustellen.

Langsam aber sicher löst sich Afrika auch von den kolonial geprägten Bildungsmodellen, die seine junge Bevölkerung in das Korsett von Bildungssystemen gezwängt und sie von ihrem reichen kulturellen Erbe entfremdet haben. Die kolonialen Bildungsmodelle haben die Afrikanerinnen und Afrikaner über Generationen hinweg geistig versklavt und vielen das Bild der Vorherrschaft der Weissen und der Unterlegenheit der Schwarzen eingebrannt. Diese geistige Versklavung untergräbt weiterhin Afrikas Fähigkeit, seinen Reichtum zu nutzen, um gemeinsamen Wohlstand zu schaffen.

Wir erleben, wie neue Bildungsmodelle – wie die seit siebzehn Jahre bestehenden Leap Math and Science Schools in Südafrika – entstehen, die jungen Menschen helfen, sich von dieser geistigen Sklaverei zu befreien und die Weisheit von Ubuntu zu verinnerlichen. Die heilende Wirkung von Verbundenheit und Reziprozität führt zu mehr Selbstvertrauen und wiedergewonnener Würde und Selbstachtung. Die Modelle haben in den ärmsten Elendsvierteln Südafrikas, in denen sie ihren Ursprung haben, spektakuläre Wirkung entfaltet. Leap-Absolventen übernehmen in ihren von Hoffnungslosigkeit geprägten Gemeinschaften Führungsrollen als Lehrer, Ingenieurinnen, Vertreter der Zivilgesellschaft, politische Akteure und in vielen anderen Berufen. Diese Erfolgsgeschichten stehen in Kontrast zur Armut, die die Welt in Afrika sieht. Die junge Generation erkennt den Reichtum Afrikas, ja sie ist dieser Reichtum.   

Afrika als grösster Kontinent (Landmasse so gross wie Europa, China und die USA zusammen) mit den meisten Ressourcen (60% Ackerland, 90% Mineralienvorkommen, Sonne und Regen im Überfluss; dazu der grösste Anteil junger Menschen mit 1,4 Mrd.) braucht ein neues Entwicklungsmodell. Ein solches Modell muss basierend auf der Ubuntu-Philosophie entstehen, deren reichhaltige Ressourcen es durch kollektives Handeln zu nutzen gilt, wodurch das Talent und die Kreativität der jungen Bevölkerung gefördert werden.

Die Welt wird von einem Afrika profitieren, das ein nachhaltigeres, regeneratives sozioökonomisches Entwicklungsmodell verfolgt. Dieses Afrika wäre in der Lage, seinen Reichtum auf gerechtere Weise zu verteilen. Afrikas junge Menschen, die sich von der geistigen Sklaverei befreit haben und als innovative, tatkräftige WeltbürgerInnen auftreten, würden die entscheidenden Fähigkeiten und die Kreativität bereitstellen, die dem Rest der alternden Weltgemeinschaft fehlt. Die Welt muss gemeinsam mit Afrika in eine beschleunigte regenerative sozioökonomische Entwicklung investieren, die Afrikas Landfläche für die Ernährungssicherheit nutzt. Die Nutzung von Afrikas indigenem Wissen über biologische Landwirtschaft und seine reichhaltigen marinen Nahrungssysteme könnte eine sichere und gesunde Ernährung für alle gewährleisten.

Afrikas Mineralien, die die Weltwirtschaft ankurbeln, einschliesslich der neu entdeckten Seltenen Erden, die für die Elektronikindustrie unverzichtbar sind, müssen auf nachhaltige Weise abgebaut werden. Die derzeitigen Bergbaupraktiken schädigen nicht nur die afrikanischen Landschaften, sondern untergraben auch das Wohlergehen der Menschen in Afrika. Eine nachhaltige Nutzung des Reichtums an Bodenschätzen für die gesamte Weltgemeinschaft erfordert einen radikalen Wandel von extraktiven hin zu regenerativen Ansätzen.

Die Welt muss die Covid-Pandemie und die existenzielle Klimakrise als Chance nutzen, um neu zu lernen, wie wir als globale Gemeinschaft zusammenarbeiten können. Dies würde sicherstellen, dass wir von degenerativen zu regenerativen Ansätzen übergehen, die nachhaltiges Wohlergehen für alle fördern. Exzessiver Konsum muss klügeren Entscheidungsmechanismen weichen, damit wir mit den Ressourcen unseres Planeten auskommen. Dies bedeutet unter anderem, dass wir uns die Weisheit der Natur zu eigen machen, wonach es kein Ich ohne Wir geben kann. Die Menschen sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig.

Meine Vision von Afrika in 50 Jahren ist die eines Kontinents, der sein Erbe als Wiege der Menschheit und der ersten menschlichen Zivilisation zurückerobert hat und sich die Intelligenz der Natur so zu eigen macht, dass jeder sein Bestes zum Wohlergehen aller im gesamten Ökosystem beiträgt. Afrika wird dann der Welt ein Modell dafür bieten, wie das ganzheitliche Menschsein neu erlernt werden kann.

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