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Interview
Zur Halbzeit enttäuschend
31.07.2024, Agenda 2030
In der UNO haben sich die Staaten der Welt 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung gesetzt, die sie bis 2030 erreichen sollen. Der Zwischenstand dieser Agenda 2030 wurde soeben in New York überprüft. Johann Aeschlimann sprach mit zwei Mitgliedern der Schweizer Delegation, Delegationsleiter Markus Reubi und Andreas Lustenberger von Caritas als Vertreter der Zivilgesellschaft.
Johann Aeschlimann schreibt regelmässig für die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA ASPE). Er war im diplomatischen Dienst der Schweiz und berichtete als Journalist aus Bern, Washington D.C., Brüssel und Bonn. Dieses Interview erschien zuerst bei der SGA ASPE.
Herr Reubi und Herr Lustenberger, warum ist die Agenda 2030 wichtig?
Markus Reubi: Sie ist der einzige globale Handlungsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Alle 193 Staaten haben innerhalb der UNO zugestimmt. Es geht um soziale Standards, Gerechtigkeit, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, in 17 Ziele und 169 Unterziele gefasst. Klar, ambitioniert und umfassend.
Wie wird die Entwicklung gemessen und überprüft?
Reubi: Für jedes Ziel werden Indikatoren formuliert, die laufend verfeinert werden. Die Schweiz leistet da übrigens mit dem Bundesamt für Statistik einen gewichtigen Beitrag. Jedes Jahr treten die 193 UNO-Staaten in New York zum High Level Political Forum (HLPF) zusammen und besprechen den Zwischenstand, in vertiefter Form für eine Handvoll Ziele. In diesem Jahr ging es um Ziel 1 (Armut), Ziel 2 (Hunger), Ziel 13 (Klima) und Ziel 16 (friedliche und inklusive Gesellschaften mit starken Institutionen). Zudem können einzelne Länder freiwillig Bericht über ihre Umsetzung erstatten. Mit Ausnahme von zwei UNO-Mitgliedstaaten haben davon alle mindestens einmal Gebrauch gemacht, die Schweiz letztmals im Jahr 2022.
Wenn wir so weitermachen, erreichen wir gerade 17 Prozent der Ziele. Bei der Armutsbekämpfung gab es einen Rückschritt, ähnlich beim Hunger.
Andreas Lustenberger
Und was ist der Zwischenstand?
Andreas Lustenberger: Er ist ernüchternd. Wenn wir so weitermachen, erreichen wir gerade 17 Prozent der Ziele. Bei der Armutsbekämpfung gab es einen Rückschritt, jetzt stagnieren wir. Ähnlich beim Hunger.
Eine Folge von COVID?
Lustenberger: Nicht nur. Der Krieg gegen die Ukraine hat die weltweite Getreideversorgung beeinträchtigt und eine Teuerung der Lebensmittel verursacht, die gerade im Globalen Süden schwer eingeschlagen hat. Ebenfalls führt die andauernde Klimaerwärmung zu Ernteausfällen und wir erleben zurzeit leider eine Zunahme von Bürgerkriegen und Konflikten. Die Welt befindet sich in einer Mehrfachkrise.
Am Anfang des Kriegs war viel von den Getreidelieferungen über das Schwarze Meer die Rede, jetzt weniger. Ist das Problem verschwunden?
Lustenberger: In den betroffenen Ländern ist die Lage sicher nicht besser geworden. Die Inflation ist immer noch da, aber es wird nicht darüber gesprochen.
Reubi: Die Verbesserung der Ernährungssicherheit ist weiterhin ein Kernanliegen der Entwicklungsländer. Viele geben auch den westlichen Sanktionsmassnahmen die Schuld. Die Politisierung der Agenda 2030 hat in diesem Kontext leider zugenommen.
Wie hat sich das in New York niedergeschlagen?
Lustenberger: In der Abschlusserklärung haben die Entwicklungsländer, die G77, auf Antrag Nicaraguas durchgedrückt, dass Sanktionen als entwicklungshemmend verurteilt werden. Ich war erschrocken, dass die dafür eine Mehrheit fanden. Immerhin werden diese Sanktionen nicht grundlos ergriffen. Es geht um die Antwort auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn Länder wie Südafrika oder Chile das ausser Acht lassen, frage ich mich, wozu sie dann sonst noch bereit sind.
Wie hat die Schweiz gestimmt?
Reubi: Wir stimmten dagegen, vor allem auch aus prozeduralen Gründen. Der Antrag für einen Anhang in der lange vorher verhandelten Abschlusserklärung kam sehr spät. Er hat den Konsens gefährdet – und dieser ist wichtig, um die Vision einer nachhaltigen Entwicklung gemeinsam zu realisieren.
Lustenberger: Die EU hat sich enthalten, vielleicht, weil sie sich intern nicht einig war.
China propagiert “development first”. Das heisst wirtschaftliche Entwicklung zuerst, Menschenrechte und der Rest danach. War das in New York spürbar?
Reubi: China war sehr präsent und hat erstmals im Namen der «group of friends» seiner eigenen global development initiative eine Erklärung abgegeben. Das Narrativ ist verfänglich. Es ist schwer, dagegen zu sein. Was aber wichtig ist zu wissen: Menschenrechte, Gleichstellung, gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und andere zentrale Bestandteile der Agenda 2030 werden nicht erwähnt. Sollten Länder wie die Schweiz sich für diese Werte nicht mehr engagieren und die Umsetzung der Agenda 2030 in der Gesamtheit vernachlässigen, wird dieses Narrativ an Kraft gewinnen.
Lustenberger: China finanziert heute 20 Prozent des gesamten UNO-Systems, durch welches ein grosser Teil der öffentlichen Entwicklungsgelder fliesst. Das ist sehr viel und wird spürbar, wenn es darum geht, wer mitbestimmt, welche Werte mit diesen Organisationen vorangetrieben werden.
Wir haben es eben nicht mehr mit einer reinen Entwicklungsagenda zu tun, sondern mit nachhaltiger Entwicklung für die ganze Welt. So gesehen, ist die Schweiz auch ein Entwicklungsland.
Markus Reubi
Die einzelnen Länder können über den Stand ihrer Umsetzung der Agenda 2030 Bericht erstatten. Tun sie das? Tun sie es umfassend?
Lustenberger: Die einzigen, die noch nie berichtet haben, sind die USA und Nordkorea. Alle anderen haben mindestens einen Bericht abgeliefert.
Reubi: Die Schweiz macht es alle vier Jahre, zuletzt 2022, als nächstes 2026. Wir müssen uns auch anstrengen, um die Ziele der Agenda 2030 zu erfüllen. Zum Beispiel auch im Bereich von Ziel 2, Hunger. Bei uns gibt es zwar keinen extremen Hunger, aber andere Ernährungsprobleme, die anzugehen sind. Verschwendung. Überernährung und Übergewichtigkeit, nachhaltige Produktion und nachhaltiger Konsum. Wir haben es eben nicht mehr wie bei den vorangegangenen «Milleniumszielen» mit einer reinen Entwicklungsagenda zu tun, sondern mit nachhaltiger Entwicklung für die ganze Welt. So gesehen, ist die Schweiz auch ein Entwicklungsland.
Lustenberger: Na ja.
Reubi: Ein Entwicklungsland im Sinne der nachhaltigen Entwicklung.
Lustenberger: Länder wie Mexiko, Ecuador, Costa Rica oder Kenia haben Daten geliefert. Sie zeigen in ihren Armutsberichten auch, was schlechter geworden ist. Zum Ziel 16, gute Regierungsführung, Frieden, Kampf gegen Korruption, Inklusion, beantworten autoritäre Regierungen nicht überall alles, auch wo es zum Beispiel um die Mitsprache der Zivilgesellschaft geht.
Wir propagieren einen Schuldenschnitt. Die Schulden der Länder des Südens sind entwicklungshemmend.
Andreas Lustenberger
Die Länder des Südens fordern vor allem mehr Geld für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Ist Geld das Einzige, was fehlt?
Lustenberger: Das Problem ist in der Tat, dass das Geld nicht reicht, um die Ziele überall zu erreichen. Aber die Umsetzung der Agenda 2030 ist eine Aufgabe für alle. Wenn Regierungen, oft auch autokratische Regierungen, ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stellen, wird Geld allein nicht reichen.
Reubi: Man wird oft auf die Entwicklungszusammenarbeit angesprochen. Aber noch viel mehr stört gerade afrikanische Länder, dass ihre Projekte so teuer sind. Ein Solarprojekt in Afrika kostet ein Vielfaches eines vergleichbaren Projekts in Europa, weil die hohen Risikoprämien verhindern, dass der Privatsektor dort investiert. Die Schweiz engagiert sich für die Verbesserung der Rahmenbedingungen vor Ort.
Lustenberger: Wir propagieren einen Schuldenschnitt. Die Schulden der Länder des Südens sind entwicklungshemmend. Eine Entschuldung würde einem Land wie der Schweiz nicht das Genick brechen.
Der politische Wind weht aus einer anderen Richtung. Das Parlament in Bern kürzt das Budget für Entwicklungszusammenarbeit, um Geld für die Ukrainehilfe freizumachen.
Lustenberger: Wir sehen das in anderen ähnlichen Ländern auch. Wir sind gegen jegliche Kürzungen und fordern eine Erhöhung der Budgets für Entwicklungszusammenarbeit. Ein bedeutender Teil dieser Gelder ist für die multilaterale Hilfe der UNO-Agenturen. Wird dort zurückgefahren, werden Länder wie China die Lücke füllen, die andere Prioritäten verfolgen. Unsere Anliegen werden geschwächt, gerade etwa im Bereich von Ziel 16. Unseren Politikern ist zu wenig bewusst, welche langfristigen Auswirkungen das hat. Ich bedaure, dass es aktuell an starken Persönlichkeiten im Parlament fehlt, die sich für eine vorausschauende Wirtschaftsaussenpolitik der Schweiz einsetzen.
Zieht die Wirtschaft mit?
Reubi: Wir sind im Dialog. Ich denke, die Wirtschaft hat die SDGs entdeckt. Man spricht dort eher von «ESG» (Environment, Social, Governance) Zielen. Im vergangenen Jahr mussten die grössten Unternehmen zum ersten Mal Nachhaltigkeitsberichte erstellen. Wir stellen fest, dass dies auch Unternehmen tun, die gar nicht verpflichtet wären. Die machen das, weil junge Angestellte, Kunden, Lieferanten oder auch an der Finanzierung beteiligte Banken danach fragen. Und weil Nachhaltigkeit Teil der Strategie geworden ist.
Was ist Ihr Fazit nach den Beratungen in New York?
Lustenberger: Für mich ist es ernüchternd und motivierend zugleich. Ernüchternd, weil wir nicht auf dem Weg sind, die Ziele zu erreichen. Motivierend, weil ich sehe, dass es nicht reicht, nur bilateral oder national zu handeln. Der multilaterale Weg gehört auch dazu. Die Schweiz leistet hier gute Arbeit, aber es darf nicht weniger werden.
Reubi: Für mich sind die Länderberichte eine zunehmend positive Erfahrung. Und das Engagement vieler einzelner Städte, die hier präsent waren und ihre Anliegen eingebracht haben.
Markus Reubi ist Diplomat im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030.
Andreas Lustenberger ist Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas und leitet dort den Bereich Grundlagen und Politik.